Verheißung Der Nacht
davon.
Cammie sah ihr nach, bis das Boot in der Dunkelheit verschwand. Sie glaubte noch zu erkennen, wie es zum Steg des Clubs fuhr, dann hörte sie, wie der Motor abgestellt wurde. Eine Weile blieb sie noch auf dem Anlegesteg stehen und dachte über das nach, was Wen gesagt hatte.
War es wirklich möglich, dass jemand Janet Baylor etwas angetan hatte wegen dem, was sie herausgefunden hatte? Und wenn Janet Baylor wirklich für jemanden eine solche Bedrohung darstellte, was war dann mit ihr selbst?
Cammie wünschte sich, sie wäre in Evergreen. Als sie von dort weggefahren war, hatte sie sich gefühlt, als sei sie aus einem Goldfischglas entkommen. Sie hatte sich davor zu fürchten begonnen, bei Nacht durch das Haus zu gehen, immer mit dem Gefühl, dass sich vielleicht jemand in den dunklen Fluren versteckte oder sie von draußen beobachtete. Jetzt allerdings kam ihr das große Haus wie eine Zuflucht vor.
Der Mond war höher gestiegen und erhellte die Nacht mit seinem blassen Schein. Vom See wehte ein leichter Wind und brachte ein wenig Kühle mit sich. Er trug den Geruch des Wassers zu ihr hin, eine etwas faulige Mischung aus Fisch und Vegetation. Gleich am Wasser reckte eine kahle Zypresse flehend ihre bemoosten Äste in den Himmel. Von weitem hörte man den Schrei eines Nachtvogels, ein klagendes Gegengewicht zu dem Chor der Pfeiffrösche und der schwirrenden Insekten.
Sie blickte über das glitzernde Mondlicht, das sich auf dem dunklen Wasser widerspiegelte, bis zu der Stelle, an der das Wasser leise gegen die Pfosten des Stegs unter ihren Füßen plätscherte. Genau an dieser Stelle, etwa einen oder zwei Meter vom Ende des Anlegers entfernt, war Reid vor all den Jahren vor ihr aufgetaucht. Vielleicht war es ja die Erinnerung daran, die sie heute hierhergetrieben hatte. Zu den ungewöhnlichsten Zeiten stieg diese Erinnerung wieder in ihr auf, so eindringlich wie eine alte, unbestimmte Trauer. Sie hatte das Gefühl, dass ihr etwas an dieser Sache entgangen war, etwas, das sie eigentlich hätte wissen sollen.
Was auch immer es war, es entzog sich ihr. Verwirrt wandte sie sich um und wollte zum Haus zurückgehen.
Ein Schatten bewegte sich an der Seite des niedrigen Hauses. Cammie blieb abrupt stehen. Sie strengte ihre Augen an, um in der Dunkelheit etwas sehen zu können.
Die Bewegung wiederholte sich nicht. Es hätte ein Busch sein können, der sich im Wind bewegt hatte, oder auch eine streunende Katze oder ein Hund, der sich vor Menschen fürchtete und jetzt weggelaufen war.
Es könnte, es könnte alles mögliche gewesen sein, aber das war es nicht. Dessen war Cammie sich ziemlich sicher.
Angst stieg in ihr auf, floss durch ihre Adern und schmerzte wie eine ätzende Säure. Ihr Herz klopfte wie wild, sie konnte hören, wie das Blut in ihren Ohren rauschte.
Der Drang, ihren Rock zu heben und so schnell wie möglich ins Haus zu laufen wie damals, als sie noch ein verängstigtes Kind gewesen war, war so groß, dass ein Schauer durch ihren Körper lief. Das Licht aus der Küche warf einen goldenen Schein durch die offene Tür auf die Veranda, doch es ließ den hinteren Teil des Hauses nur noch dunkler erscheinen. Sie hatte nicht daran gedacht, die Tür zu schließen oder das Haus sogar abzuschließen, als sie mit Wen zum See hinunterging, sie hatte gar keinen Grund dazu gehabt.
Es war natürlich möglich, dass der Schatten, der sich bewegt hatte, Reid war.
Wut stieg bei diesem Gedanken in ihr auf. Die Wut war so groß, dass sie ihr die Kraft verlieh, auf das Haus zuzugehen. Sie zwang sich weiterzugehen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wenn er ihr wieder nachspionierte, wenn er es wagen würde, sich ihr zu zeigen, nachdem er ihr einen solchen Schrecken versetzt hatte, würde sie ihn umbringen. Oder sie würde die Arme um ihn schlingen und ihn nie wieder weggehen lassen.
Ja, oder vielleicht würde sie so schnell sie könnte vor ihm davonlaufen.
Derjenige, der sich den meisten Gewinn davon versprach, die Dokumente im Gericht verschwinden zu lassen - und auch die Frau, die sie gefunden hatte -, war Reid Sayers. Cammie hatte es bis jetzt vermieden, diesen Gedanken zu Ende zu denken, doch jetzt konnte sie ihm nicht länger ausweichen.
Der schmale Kiesweg, der durch jahrelanges Hinauf- und
Heruntergehen zum See ausgetreten worden war, schien nicht enden zu wollen. Das Geräusch der kleinen Steine unter ihren Füßen schien überlaut. Sie fühlte das harte Gras, das jetzt feucht vom Tau war, an ihren
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