Verheißung des Glücks
sich, ob sie überhaupt einen Schritt weitergekommen waren. Sie hatten so viele Dinge gehört, über die wohl besser für alle Zeiten der gnädige Mantel des Schweigens gebreitet worden wäre.
Wie furchtbar musste es Lincoln getroffen haben, dass sein Vater sich entschieden hatte, für ihn lieber tot zu sein als ein hilfloser kranker Mann. Und wie unsagbar grauenvoll war das Leben gewesen, das Donald Ross geführt hatte: Ein Leben, in dem nach Minuten und nicht nach Jahren gerechnet wurde, weil es immer nur Minuten gab, in denen er bei klarem Bewusstsein war. Melissa erschauerte. Doch ihr Mitleid galt auch Eleanor. Fast zwei Jahrzehnte lang hatte sie die niederdrückende Last von Donald Ross' Geheimnis beinahe ganz allein getragen. Sie hatte immer für ihren Mann da sein wollen und ihm alles geopfert — die besten Jahre ihres eigenen Lebens und ihren einzigen Sohn. Wie furchtbar das alles war!
Melissa empfand für Eleanor beinahe mehr Mitgefühl als für Lincolns Vater. Donald Ross' Leben war durch einen Unfall zerstört worden und seiner Frau hatte er eine beinahe unmenschlich schwere Entscheidung abverlangt. Ob Eleanor nun das Richtige oder das Falsche getan hatte, ihr Beschluss betraf nicht allein ihr Leben, sondern auch das ihres Sohnes und vieler anderer Menschen. Diese schwere Bürde lastete auf ihren Schultern. Lincoln würde sicher eine gewisse Zeit brauchen, bis er das ganze Ausmaß des Opfers, das seine Mutter gebracht hatte, erkannte. Möglicherweise würde er sogar nie verstehen, warum sie diese Wahl getroffen hatte ...
»Es tut mir so Leid«, sagte Melissa. Die Worte klangen selbst ihn ihren eigenen Ohren unpassend und hohl.
»Es gibt nichts, wofür Sie sich entschuldigen müssten«, antwortete Eleanor mit leiser Stimme. »Ich habe nie damit gerechnet, dass Lincoln mir je verzeiht, wenn er einmal alles erfahren würde. Deshalb habe ich auch bis jetzt geschwiegen. Als ich Lincoln damals zu meinem Bruder schickte, hoffte ich noch, ihn bald wieder zurückholen zu können. Doch die Jahre vergingen und eines Tages wusste ich, dass ich ihn verloren hatte. Er begann mich zu hassen, denn er glaubte, ich hätte ihn verstoßen.«
»Warum haben Sie Lincoln denn nie gesagt, dass das gar nicht der Fall war?«
»Das habe ich. Sogar immer wieder. Aber er glaubte mir nicht. Er war so voller Wut, dass er mir gar nicht zuhörte. Und diese Wut trägt er offenbar noch immer mit sich herum.«
»Manchmal verbirgt sich hinter dieser Art von Wut auch eine tiefe Verletzung«, sagte Melissa.
»Ja, da haben Sie wohl Recht«, antwortete Eleanor. »Doch bei den wenigen Besuchen, als ich Lincoln überhaupt zu Gesicht bekam, gelang es mir nicht, die Mauer, die er um sich errichtet hatte, zu überwinden.«
»Vielleicht wollte er Sie ja ebenso sehr verletzen, wie Sie ihn verletzt hatten.«
Eleanor lächelte traurig. »Ja, schon möglich, das liegt wohl in der menschlichen Natur.«
»Die menschliche Natur ist aber auch dafür verantwortlich, dass ein solch ein Verhalten meist auf einen selbst zurückfällt«, sagte Melissa. »Einen Menschen, den man über alles liebt, verletzt man nicht ungestraft. Meist fügt man sich selbst damit größere Schmerzen zu als dem anderen. Ich glaube, Lincoln musste sich das gerade eben zum ersten Mal eingestehen. Es wird einige Zeit dauern, bis er zu seinem Schmerz stehen kann und sich nicht mehr nur hinter seiner Wut versteckt. Bis er alles, was Sie ihm heute gesagt haben, wirklich verdaut hat, gehen sicher Wochen, wenn nicht Monate ins Land. Aber er wird darüber hinwegkommen — ganz bestimmt.«
Eleanor trat vor Melissa hin und drückte sanft ihre Hand. »Ich weiß, Sie wollen mir Mut machen. Aber für Lincoln und mich ist es zu spät. Ich verlor meinen Sohn an dem Tag, als ich ihn zu meinem Bruder schickte, und die verlorenen Jahre kann uns niemand zurückgeben. Er hat Recht. Ich habe ihn im Stich gelassen. Auch die Gründe, die ich dafür hatte, ändern daran nichts.«
»Aber ganz im Gegenteil.«
Eleanor schüttelte den Kopf. »Lincoln wird das nicht so sehen. Ich habe einen unverzeihlichen Fehler gemacht. Das weiß ich inzwischen. Ich glaube, sogar Donald tat es am Ende Leid, dass er sich um seinen einzigen Sohn gebracht hatte. Ich hätte mein Versprechen schon vor Jahren brechen müssen. Doch ich beugte mich Donalds Wünschen, weil ich nicht wollte, dass er in den seltenen wachen Momenten, die ihm blieben, unglücklich war. Darum widersprach ich ihm nie. Selbst dann nicht, als ich es
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