Verheißung des Glücks
doch ich musste die Wünsche deines Vaters respektieren.«
»Hast du mich deshalb weggeschickt?«, wollte Lincoln wissen. »Damit ich nicht herausfand, dass mein Vater noch lebte?«
»Die Neugier trieb dich immer wieder zu der verschlossenen Tür. Ein paarmal sah ich dich auch heimlich durch den Korridor schleichen. Aber das war nicht der eigentliche Grund, warum ich beschloss, dich zu deinem Onkel nach England zu schicken. Du hattest dich zu einem furchtbar wilden und sehr ungezogenen Kind entwickelt. Ich wusste nicht mehr, wie ich dich im Zaum halten sollte. Schuld daran war ich selbst, denn ich hätte mir viel mehr Zeit für dich nehmen müssen. Nun aber war meine einzige Hoffnung, dass eine starke männliche Hand dir gut tun und dein Verhalten wieder in geordnete Bahnen zurück lenken würde. Richard war bereit, dich für ein paar Jahre aufzunehmen. Er und ich hatten schon vor deinen Auseinandersetzungen mit den MacFearsons darüber gesprochen. Als du schließlich verletzt und ohnmächtig ins Haus getragen wurdest, war ich mit meinem Latein am Ende. Ich war endgültig überzeugt, nur ein Mann könnte dir noch helfen. Darum legte ich deine Erziehung in die Hände meines Bruders.«
»Du hättest dich einfach viel mehr um mich kümmern müssen«, sagte Lincoln.
»Ja. Aber das war die Entscheidung, vor der ich damals stand«, antwortete Eleanor traurig. »Ich stand zwis c hen dir und deinem Vater. Wenn er zu sich kam, wollte ich bei ihm sein. Ich war doch alles, was er noch hatte.«
»Und du warst alles, was ich noch hatte!«
»Ich weiß.« Eleanor begann wieder zu weinen. »Meinst du, ich würde das alles nicht bitter bereuen? Ich habe dich auch deshalb zu Richard geschickt, weil ich wusste, er würde Zeit für dich haben. Mein Bruder mochte dich sehr und du wurdest so etwas wie ein Sohn für ihn. Nach ein paar Jahren wollte ich dich gerne zurückholen. Damit hätte ich sicher all die Fortschritte in deiner Entwicklung wieder zunichte gemacht, aber ich vermisste dich so sehr. Doch zu diesem Zeitpunkt wolltest du schon nicht mehr zurück zu mir.«
»Warum hätte ich denn zu dir nach Hause kommen sollen? Um wieder vor deiner verschlossenen Tür zu stehen? Um mich wieder verlassen und allein zu fühlen?«
»Es ging nicht anders, Lincoln. Verstehst du das denn nicht? An seinen besseren Tagen kam dein Vater oft für ein paar Minuten zu sich. Es konnte aber auch eine Woche oder sogar Monate dauern, bis sein Geist wieder in seinen Körper zurückfand. Manchmal sprach er fast eine Stunde lang mit mir. Dann wieder fiel er schon nach ein paar Sätzen in den Dämmerzustand zurück. Wenn ich nicht ununterbrochen an seiner Seite war, riskierte ich, dass ich die kostbaren Momente, in denen er tatsächlich er selbst war, verpasste. Ich liebte ihn so sehr. Es zerriss mir das Herz, wenn wir miteinander sprachen und ich genau wusste, dass ich ihn bald wieder auf unbestimmte Zeit verlieren würde. Aber die wenigen Minuten waren alles, was mir von ihm blieb. Wenn ich nach England reiste, um dich zu besuchen, konnte ich natürlich nicht bei ihm sein, wenn er erwachte. Dennoch fuhr ich zu dir, so oft es mir möglich war. Dann versuchtest du immer, mir aus dem Weg zu gehen. Das war offensichtlich. Du wolltest nicht mit mir reden und dagegen konnte ich nichts tun. Wie gerne hätte ich dir alles erklärt. Aber ich war durch mein Versprechen zum Schweigen verpflichtet. Bald tat es mehr weh, dich zu besuchen und deine Ablehnung zu spüren, als dich überhaupt nicht mehr zu sehen. Kannst du mich nun wenigstens verstehen? Kannst du mir vielleicht sogar verzeihen?«
Lincoln schwieg. Die Minuten zogen sich in die Länge, und noch immer sagte er keinen Ton. Dann endlich presste er mühsam hervor: »Ich soll dir verzeihen, dass du meinen Vater mehr geliebt hast als alles andere auf der Welt? Ich glaube, das kann ich. Aber dass du mir damals, als es so wichtig für mich gewesen wäre, nicht alles erklärt hast — ich weiß nicht, ob ich dir das verzeihen kann. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mir je selbst verzeihen werde.«
Dreiundfünfzigstes Kapitel
Lincoln erhob sich und verließ den Raum. Seine Stimme hatte kalt und hart geklungen. Hinter diesem barschen Ton verbarg sich tiefer Schmerz. Und was er gesagt hatte ...
Melissa spürte eine seltsame Unruhe in sich. Lincoln machte sich offenbar Vorwürfe — aber wofür, das konnte sie nicht sagen. Der Besuch bei seiner Mutter war ganz anders verlaufen als erhofft. Melissa fragte
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