Verheißung des Glücks
und das war ihr allemal lieber als ein Bericht aus zweiter Hand.
Die Reise nach England verlief ereignislos. Melissa war schon öfter dort gewesen, aber ihr jüngster Onkel, der sie begleitete, verließ Schottland nun zum ersten Mal. Für ihn war die Fahrt also um einiges aufregender als für sie. Melissa liebte alle ihre Onkel. Aber Ian Six, der Jüngste der sechzehn Brüder, und der Letzte, dem man den Namen Ian gegeben hatte, war eher so etwas wie ein guter Freund für sie. Daher freute sie sich besonders, dass gerade er ihr Reisebegleiter war.
Ein paar Monate zuvor hatte er seinen sechsundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Er war genauso hoch gewachsenen wie alle seine Brüder, allerdings fehlte ihm das volle, goldblonde Haar und die hellgrünen Augen, die fast alle anderen von ihrem Vater geerbt hatten. Ians Haar war eher rötlich als braun, dabei aber längst nicht so flammend rot wie der Schopf vieler anderer Schotten. Zu seiner Haarfarbe passten auch die sanften, tiefblauen Augen. Vom Äußeren her schlug er also eher seiner Mutter nach. Von ihr hatte er auch die unzähligen Sommersprossen in seinem Gesicht geerbt, die ihm ein sehr jugendliches Aussehen verliehen. Ian Six war ein fröhlicher Typ, weitaus weniger verschlossen als manche seiner Brüder und immer zu einem Scherz oder einer Neckerei aufgelegt. Doch seine Aufgabe als Melissas Begleiter und Vertrauter nahm er sehr ernst.
Seit sie Kregora Castle verlassen hatten, schwärmte sie ihm nun schon in den höchsten Tönen von Lincoln Burnett vor, sodass er es inzwischen selbst kaum erwarten konnte, dem Mann, der seine Nichte dermaßen in Bann schlug, endlich gegenüberzustehen. Gelegentlich ermahnte er sie, sich die anderen Gentlemen, die man ihr vorstellen würde, wenigstens einmal anzusehen. Ihm war daran gelegen, dass sie eine möglichst große Auswahl hatte, damit sie auch wirklich den Richtigen fand. Ihn plagten gewisse Schuldgefühle, weil er einer der Onkel gewesen war, die Melissas bisherige Verehrer vergrault hatten. Er hatte sich geschworen, sich in seinem Urteil zurückzuhalten, soweit er es vermochte, und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Genau das wünschte Melissa sich auch von ihm. Aber inzwischen war sie sich schon beinahe sicher, dass die Dinge ihren Lauf bereits genommen hatten. Dennoch würde sie nun etliche Wochen in London verbringen. Eigentlich fand sie Ians Rat, sich möglichst viele Männer anzusehen und erst am Ende ihre Wahl zu treffen, recht klug. Dieser Gedanke machte sie allerdings auch ein wenig nervös. Schließlich konnte dabei einiges schief gehen. Was, wenn im Laufe der Saison eine andere Frau Lincolns Interesse erregte und er sich schließlich für diese Dame entschied? Natürlich war es gerade für diesen Fall besser, wenn sie auch andere Heiratskandidaten in Betracht zog, sonst ging sie am Ende noch leer aus.
Zu Melissas großer Enttäuschung begegnete sie Lincoln in London nicht, wie sie heimlich gehofft hatte, gleich bei ihrer Ankunft. Am Abend ihres Debüts hielt sie unablässig nach ihm Ausschau. Es war ein festliches Dinner für etwa dreißig Personen. Die Duchess fand, dieser überschaubare Rahmen sei genau das Richtige für Melissa, um erste gesellschaftliche Erfahrungen zu sammeln. Leider befand Lincoln sich nicht unter den Gästen.
Ian begleitete sie nicht zu dem Dinner. Das hatte er auch gar nicht vorgehabt, denn die Duchess von Wrothston wachte ja über Melissas Wohlergehen. Sie war für diese Aufgabe bestens geeignet, denn kein Mensch würde es wagen, sich dem Schützling einer so hoch stehenden Dame der Gesellschaft gegenüber ungehörig zu benehmen. Es sich mit Megan St. James zu verderben, glich dem totalen gesellschaftlichen Ruin.
Als dann am nächsten Tag gleich vier Gentlemen nacheinander erschienen, um Melissa ihre Aufwartung zu machen, war Ian bei jedem Besuch anwesend. Einige der Besucher glaubten offenbar, sie seien gut beraten, den männlichen Wächter über Melissas Tugend freundlich zu stimmen. Folglich gaben sie sich jede erdenkliche Mühe, eine gute Figur zu machen, und einer von ihnen schaffte es sogar, mit Ian ins Gespräch zu kommen. Ihr gemeinsames Interesse galt dem Golfspiel und sie diskutierten eine geschlagene halbe Stunde lang über diesen Sport.
Melissa amüsierte sich blendend. Sie spielte gelegentlich selbst recht gerne eine Partie Golf und hätte sich an dem Gespräch beteiligen können. Aber die beiden Männer waren so in ihre Fachsimpelei vertieft, dass sie sich
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