Verheißung des Glücks
jedes Mal, wenn er seine Mutter erblickte, wallten Wut und Ablehnung aufs Neue in ihm auf. Vielleicht wäre es befreiend gewesen, eine offene Aussprache herbeizuführen und ihr alles vor die Füße zu schleudern, was sich im Laufe der Jahre in ihm angestaut hatte. Doch das würde so unerträglich schmerzhaft werden, dass Lincoln davon absah. So beschloss er, Zorn und Bitterkeit lieber wieder in einem entfernten Winkel seines Herzens einzuschließen, anstatt diese Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
Vielleicht konnte Melissa ihm eines Tages helfen, allen Groll zu vergessen. Sie war gleichsam eine strahlende Blüte in einem vom Winter verwüsteten Garten. Genauso trostlos erschien Lincoln seit geraumer Zeit sein Leben, in dem es weder Freude noch irgendein tief empfundenes Interesse an einer wichtigen Aufgabe und schon gar keine echte Herausforderung gab. Sein ganzes Dasein war von den bitteren Erinnerungen an seine Jugend bestimmt. Bevor ihm Melissa begegnet war, hatten seine Tante und seine Kusine ihm das Leben noch einigermaßen erträglich erscheinen lassen. Melissa indessen würde es mit neuem Sinn erfüllen. Er musste sie nur noch zu der Seinen machen.
Allerdings hatte Lincoln nicht damit gerechnet, dass Henriette Eleanor einlud, mit ihnen nach England zu fahren. Wider Erwarten nahm seine Mutter diese Einladung an. Einen ganzen Tag lang überlegte Lincoln sich die unterschiedlichsten Gründe, warum es gerade jetzt besonders ungünstig wäre, wenn sie Schottland für ein paar Wochen den Rücken kehrte. Aber es gab wirklich nichts, was Eleanor davon abhalten konnte, die Saison mit ihnen in London zu verbringen.
Ihr einfach die Wahrheit zu sagen — dass er ihre Gegenwart nicht ertrug — stand völlig außer Frage. Um so unhöflich und verletzend zu sein, war er doch noch nicht abgestumpft genug. Abgesehen davon würde er durch eine solche Eröffnung genau das Gespräch herbeiführen, das er unbedingt vermeiden wollte.
Natürlich konnte er nun, da seine Mutter noch einige Reisevorbereitungen zu treffen hatte, Melissa nicht auf dem Fuße folgen. Er hatte gehofft, sie noch einzuholen, vielleicht sogar durch eine glückliche Fügung des Schicksals auf der Reise in denselben Gasthäusern übernachten zu können wie sie. Dann hätte er gleich beginnen können, um seine Auserwählte zu werben. Nun jedoch musste er sich erst einmal gedulden. Natürlich war es nicht weiter tragisch, wenn er ein oder zwei Tage nach Melissa in London ankam. Schließlich wusste er, wo er sie finden konnte, denn ihr Vater hatte ihm gesagt, sie würde bei einer gewissen Familie St. James wohnen. Diese Leute kannte er zwar nicht, aber die Adresse ließ sich sicher leicht herausfinden.
Leider stellte sich bald heraus, dass der Name St. James in London gleich viermal vertreten war, und zwar unter vier verschiedenen Adressen. Die teuerste war das imposante Stadthaus eines Dukes und Lincoln strich sie sofort von seiner Liste. Es dauerte vier Tage, bis er die anderen drei ausfindig gemacht hatte. Der erste St.
James, den er aufsuchte, war ein erfolgloser Schauspieler, der eigentlich ganz anders hieß, sich aber St. James nannte, weil er fand, der Name klinge gut. Unter der nächsten Adresse traf Lincoln die Witwe eines Kapitäns an, die in Schottland keine Menschenseele kannte. Schließlich gab es noch die zehnköpfige Familie St. James, die in einem heruntergekommenen Stadtviertel in einer winzigen Wohnung hauste, in der es kaum genügend Platz für die Kinderschar, geschweige denn für einen schottischen Gast gab.
Am Ende blieb Lincoln nichts anderes übrig, als es doch einmal mit dem Stadthaus von Duke Ambrose Devlin St. James zu versuchen, obwohl er fast sicher war, dass er damit seine Zeit verschwendete. Es kam ihm einfach zu unwahrscheinlich vor, dass seine Melissa den Duke und die Duchess von Wrothston kannte und auch noch so eng mit diesen hoch stehenden Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens befreundet war, dass sie von ihnen für die Dauer der Saison in ihr Stadthaus in London eingeladen wurde. Falls das aber doch der Fall war, stand er vor einem neuen Problem. Mitgliedern dieser hohen Adelskreise stattete man nicht einfach ohne vorherige persönliche Einladung, oder ohne ihnen zumindest offiziell vorgestellt worden zu sein, einen Höflichkeitsbesuch ab. Nur wenn es sich um wichtige geschäftliche Belange handelte, konnte ein Fremder sich erlauben, unaufgefordert bei einem Duke vorzusprechen.
Melissa befand sich tatsächlich
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