Verheißung des Glücks
jetzt erwachsen. Erwachsene prügeln sich nicht wie Lausbuben oder Halbstarke. Lincoln von Meli fern zu halten, bevor ihre Gefühle für ihn zu tief werden, erschien uns als die sicherere Lösung. Wofür hättest du dich denn entschieden?«
»Wenn man es so betrachtet, natürlich auch für die zweite Möglichkeit«, gab Justin widerstrebend zu. »Aber ich glaube, hier liegt ein Denkfehler vor — und zwar, was die Tiefe von Melis Gefühlen f ür diesen Mann betrifft. So verzweifelt, wie sie im Augenblick ist, handelt es sich offenbar nicht um eine oberflächliche Schwärmerei.«
»Umso richtiger war es, ihr nicht zu sagen, warum Line nichts mehr von ihr wissen will. Sie ist ein Mädchen, das eher ihrem Herzen folgt als dem gesunden Menschenverstand.«
Justin seufzte. »Da magst du wohl Recht haben. Aber weiter bringt uns das nicht. Meli kam nach London, um sich einen Bräutigam zu suchen. Soweit ich weiß, ist das der eigentliche Zweck ihres Aufenthaltes hier. Aber wie soll das gelingen, wenn sie voller Sehnsucht auf einen Mann wartet, den sie niemals wiedersehen wird? Sie denkt noch immer, dass er bald wieder vor unserer Tür stehen wird. Und ich habe ihr vor ein paar Stunden sogar noch selbst Mut gemacht. Sie wird also weiterhin warten und sich für keinen der Junggesellen interessieren, die sich beinahe darum schlagen, sie einmal besuchen zu dürfen. Das bedeutet, sie wird ohne einen Bräutigam wieder nach Hause fahren. Das ist euch MacFearsons doch bewusst?«
»Glaubst du, mir gefällt das?«
»Ich glaube vor allem, du hast nicht vor, etwas an dieser verfahrenen Situation zu ändern. Aber ich werde nicht einfach zusehen, wie Meli langsam krank wird vor Verzweiflung.«
»Ich muss dich leider bitten, das, was du weißt, für dich zu behalten.«
»Ich tue, was ich für richtig halte.«
»Das kann ich in diesem Fall nicht zulassen.«
Ian stellte sich mit verschränkten Armen vor die Tür. Sein schuldbewusster Blick war einem anderen Ausdruck gewichen. Nun sah er sehr entschlossen aus. Justin stöhnte insgeheim. Er würde wohl doch nicht ganz ungeschoren davonkommen. Das hatte er nun davon. Aber ein St. James kniff nicht vor einer Herausforderung.
Justin hob erneut die Fäuste vors Gesicht, doch Ian schüttelte den Kopf. »Du würdest den Kürzeren ziehen. Lass es lieber bleiben. Aber vielleicht denkst du einmal darüber nach, was du damit anrichten könntest, wenn du ihr alles erzählst. Sie hat ein mitfühlendes Wesen und wird sich auf Lincolns Seite schlagen. Genau wie du wird sie darauf bestehen, die Vergangenheit ruhen zu lassen, und dabei blind sein für die Gefahr, die sein unberechenbarer Zorn für sie darstellt.«
»Gefahr?«
»Ein Besessener wie er stellt immer eine Gefahr dar, ganz besonders für diejenigen, die ihm am nächsten stehen und viel mit ihm zusammen sind. Wenn einen solchen Menschen die Wut überkommt, vergisst er alle Zurückhaltung. Er wird zügellos und unberechenbar. Glaub mir, ich habe Lincoln in diesem Zustand gesehen. Er ging noch auf George, Malcolm und Ian Two los, die alle drei älter und kräftiger waren als er, da hatte er schon ein paar gebrochene Rippen, zwei gebrochene Finger, ein verstauchtes Handgelenk und einen verschobenen Kiefer. Oder war es seine Nase? Jedenfalls blutete er aus etlichen Wunden im Gesicht ...«
»Ich habe verstanden!«, unterbrach Justin ihn und schüttelte sich.
»Nein, ich glaube nicht. Line konnte nicht aufhören, obwohl er verletzt war. Er hatte Mühe, mit seinen fast völlig zugeschwollenen Augen überhaupt noch etwas zu sehen. Es war kaum noch etwas Menschliches an ihm in seiner unbändigen Wut. Man konnte fast meinen, er hätte Todessehnsucht. Aber bei einem Kind wäre das wohl eher ungewöhnlich. Vielleicht kann man es als einen Anfall von Wahnsinn bezeichnen. Aber wie man es auch nennt — was, glaubst du, geschieht mit einem Menschen, der sich einem solchen Verrückten in den Weg stellt? Und stell dir vor, diese Person ist eine Frau, die vielleicht sogar Partei für die andere Seite ergriffen hat?«
»Das sind aber alles nur Spekulationen. Wer weiß, ob Lincoln überhaupt noch so ist. Vielleicht fehlte ihm damals einfach die Reife und der Überblick. Immerhin läuft er noch frei herum. Das bedeutet, es ist ihm gelungen, beinahe dreißig Jahre alt zu werden, ohne jemanden umzubringen. Aber du sprichst von Dingen, die passiert sind, als Meli noch gar nicht geboren war, und von denen ihr nur annehmt, dass sie unter Umständen einmal
Weitere Kostenlose Bücher