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Verico Target

Verico Target

Titel: Verico Target Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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waren sogar in
Shorts unterwegs.
    Jeanne überquerte rasch die Straße; ihr
übergroßes graues Sweatshirt bauschte sich über den
ausgebeulten Jeans, und das mattbraun gefärbte Haar trug sie
kürzer geschnitten als das der meisten Jungen.
    »Hallo, Jeannie! Warte mal!«
    Jeanne drehte sich um. Ihre Zimmergenossin Carol Keating, ein
schwergewichtiges Mädchen aus Toledo, watschelte eilig über
das Gras. Carol lachte und zeigte ihre großen,
blendendweißen Zähne. Jeanne hatte den Eindruck, als
würde Carol ewig lachen. Sie trug einen frechen grünen
Minirock, einen grünen Poncho und eine Baseballkappe. »Was
hast du denn da grade gemacht, Stubenkameradin?«
    Jeanne errötete. »Wann grade?«
    »Na grade eben! Bevor du die Straße
überquert hast! Ich hab dich beobachtet. Du standest da
fünf Minuten lang, bis die Straße völlig leer war,
und dann ranntest du rüber, als könnte plötzlich ein
Schwerlaster auftauchen, der dich ins Jenseits befördert! Ich
rief deinen Namen, aber du… Jeannie! Was ist denn los? Meine
Güte, du bist ja weiß wie die Wand!«
    »G-gar nichts… Ich fühle mich nicht besonders.
Vielleicht ist eine Grippe im Anmarsch.«
    Carol musterte sie eingehend, und Jeanne sah weg. Carol hatte ein
wirklich gutes Gespür für Geflunker. Aber sie sagte nur:
»Solltest du dann nicht mal kurz bei der Ambulanz
vorbeischauen?«
    »Nein. Kann ich nicht. Ich hab Soz.« Soziologie 101, wo
sie, bei Gott, von den Spannungen lernte, die zwischen dem Individuum
und der kollektiven Macht einer gegebenen Gruppe bestehen.
    Carol fuhr fort, Jeannie eingehend zu betrachten. Jeanne lachte:
»He, was siehst du mich denn so an? Schau ich denn dermaßen krank aus?«
    »Jeannie, warum trägst du eigentlich nie ein
bißchen Make-up? Oder läßt dir das Haar wachsen?
Oder trägst irgend was anderes als drei Nummern zu große
Sachen? Meine Güte, wenn ich so eine Figur hätte wie
du… Aber bei dir hat man das Gefühl, du legst es geradezu
darauf an, möglichst… also, wie soll ich sagen, unattraktiv
zu wirken!«
    »Findest du nicht, daß du etwas zu weit gehst?«
fragte Jeanne kalt.
    »Zu weit? Herrgott, wir sind doch Zimmergenossen! Und ich
dachte, Freundinnen auch.«
    »Sind wir ja«, sagte Jeanne. Sie ging rascher, die
Bücher fest an sich gepreßt.
    »Aber du, wie soll ich sagen, du gehst nie aus dir heraus.
Bei niemandem, nicht mal bei mir. Und manchmal, nachts, da redest du
im Schlaf…«
    Schlagartig blieb Jeanne stehen. »Ich rede? Im Schlaf? Was
sage ich da?«
    »Na ja, es ist nicht ganz deutlich, eben irgend
was…«
    »Was sage ich?«
    Carol starrte sie an. »Keine ganzen Wörter. Oder wenn,
dann kann ich sie nicht verstehen. Bloß ›nein, nein!‹
und ein gelegentliches Stöhnen und so.«
    Jeanne ging weiter, und Carol hatte Mühe, Schritt zu halten.
»Also gut, dann geht es mich halt nichts an!« letzt klang
die Stimme des dicklichen Mädchens ärgerlich. »Aber
wir sind doch Freundinnen, Jeannie! Und wenn dir etwas wirklich
Schlimmes zugestoßen ist, dann könntest du doch mit dem
Uni-Therapeuten sprechen. Er soll gut sein, das höre ich von
allen, die je bei ihm waren. Also wenn du als Kind, na ja,
mißbraucht worden bist oder so ähnlich und dir deshalb so
farblose Sachen anziehst, dann könntest du…«
    »Bitte verschone mich mit deiner Amateurpsychoanalyse,
Keating.«
    Carol blieb stehen. »Okay, okay, du stehst über den
Dingen. Du stehst auch über uns allen. Die unabhängige, auf
keinerlei fremde Hilfe angewiesene Jeanne Cassidy, die keine Freunde
braucht.«
    »Ganz richtig. Ich brauche keine Freunde.«
    »Leck mich, Cassidy.« Mit flatterndem grünem
Ponchosaum marschierte Carol davon.
    Jeanne sah ihr nach, wie sie um die Ecke eines
schachteiförmigen Backsteingebäudes verschwand. Die war sie
los. Als Freundin taugte Carol ohnedies nicht besonders; immerzu
futterte sie und beschwatzte die anderen dauernd, es ihr gleich zu
tun, dazu hatte sie eine Art, ewig an Jeanne herumzunörgeln,
ohne Unterlaß… Jeanne würde sich im kommenden
Semester ein Einzelzimmer nehmen müssen. Das würde mehr
Geld kosten. Aber wenn sie tatsächlich im Schlaf
plapperte…
    Cadoc. Verico. Cadaverico.
    Jeanne schloß ganz fest die Augen, bis ihr Herz wieder Ruhe
gab und das Pochen in den Schläfen verging. Manchmal brauchte
sie dazu etliche lange Minuten. Manchmal richteten die Leute
währenddessen auch das Wort an sie, und sie hörte sie nicht
einmal.
    Als es vorbei war, schritt sie entschlossen und ohne

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