Verirrt in den Zeiten
Die Spieldose verklang mit wehem Zittern, und all die
bunte Pracht, das heitre Elfenvolk verschwand, zerfloß in
nichts. Wie Geisterhauch, wie eine Fata morgana, geheimnisvoll
und lieblich.
Nachträglich war mir aufgefallen, daß der fremde Hexenmeister
gar nicht wie sonst die Puppenspieler hinter seinerBühne stand, sondern auf und nieder promenierte und jeden
einzelnen von uns mit seinen dunkeln Blicken bannte.
Mir blieb das Schauspiel unvergeßlich, und noch viel später,
nach Jahrzehnten, mußte ich die unfaßbare Kunst des fremden
Magiers bewundern: wie er mit jenem Rokokoidyll, lächelnd,
zärtlich, tändelnd, ein Bild des großen Weltgeschehens
in lieblicher Verkleinerung zu stellen wußte.
Warum ich das erzähle? Als ich damals, noch ein Kind, von
dem Erlebnisse berichtete, da sagte mein Vater — wohl nur,
um mich zu spotten —, das sei ja gar nicht wahr, das hätte ich
niemals gesehen, und wenn ich es gesehen hätte, so sei es nur
ein Sinnentrug gewesen. Als ich ernsthaft, ja heftig widersprach,
da meinte der beharrliche Verneiner, ich möge es ihm
doch beweisen, aber nicht etwa durch die andern Kinder,
denn auch die könnten so wie ich das Opfer einer Täuschung
sein.
Und ich plagte mich vergebens, und es vergällte mir die
nächsten Wochen, daß ich nicht beweisen konnte, was ich
doch mit eignen Augen wahrgenommen hatte. Aus jenem ersten
Schmerze des Erkennens erwachte die Begierde nach
weiterer Erkenntnis, so daß ich mit elf Jahren Schoppenhauer
las. —
Also nur darum, weil irgendwo geschrieben steht, daß dieser
Krieg bis sechzehnhundertachtundvierzig dauern werde,
darum muß ich müßig bleiben, muß meine Kenntnisse verbergen,
mein beßres Wissen feig verleugnen? ›Es steht geschrieben.‹
Wie viele tausend Unglückliche müssen qualvoll sterben,
weil ›es geschrieben steht‹, weil sie nicht all das Erlogne
glauben wollen, was geschrieben steht.«
»Nicht, weil’s geschrieben steht. Weil es so sein wird. So
sein muß. So und nicht anders. Um Himmels willen, kommt
doch zur Besinnung. Bescheidet Euch, laßt ab von einem Unterfangen,
das mißlingen, das Euch nur Unheil bringen muß.«
»Ja, was will ich denn? Will ich denn Böses? Warum soll
mich denn Unheil treffen? Will ich denn Unheil bringen? Frieden
will ich bringen und Glück. Dem grauenvollen Krieg willich mit meinen überlegnen Waffen ein schnelles Ende machen.
Mein armes Deutschland, das heute eine Wüste ist, ein
Tummelfeld halbwilder Horden, will ich in einen Blumengarten
wandeln. Fortschritt will ich bringen; Licht und Wissenschaft
und Freiheit.«
Und mit erobernd schwärmerischen Blicken umfaßte ich
die Landschaft tief zu meinen Füßen.
»Seht, Konradin« — so fuhr ich fort —, »ich will ja Euern
frommen Glauben nicht erschüttern. Aber ist’s nicht der klarste
Widerspruch gegen alle überkommne Wahrheit, daß ich,
der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts, jetzt hier auf diese
Landschaft blicke?«
»Und warum seid ihr hier? Wißt Ihr’s? Durch Gottes Ratschluß.«
»Und warum ist’s nicht überliefert?«
Halb triumphierend, halb angstvoll war meine Frage.
»Doch darüber will ich jetzt nicht rechten. Von der Wahrheit
dessen, was die Bücher überliefern, will ich sprechen.
Seht hier meine Taschenbatterie und hier die Glühlampe, die
uns jeden Abend leuchtet. Seht, diese beiden Dinger werfen
das ganze Bild des Weltgebäudes übern Haufen. Daß Ihr
jetzt, im Jahre sechzehnhundertzweiunddreißig, die beiden
Dinger vor Euch seht, das bohrt ein Loch in alles irdische Erkennen,
in alle Überlieferung, in alle bisherige Wahrheit.
Denn in allen Büchern steht geschrieben, daß die erste Batterie
und die erste Glühlampe im neunzehnten Jahrhundert verfertigt
wurde. Hier habt Ihr’s schwarz auf weiß, lest es doch
selber nach.«
Ich reichte ihm meinen Ingenieurkalender hin, und er bestaunte
ängstlich-neugierig den engen Druck, das feine
durchsichtige Papier.
»Ja, was ist Wahrheit? Bis jetzt gilt es als Wahrheit, daß die
Sonne um die Erde kreist. Und zu meiner Zeit weiß jedes
Kind, daß sich die Erde um die Sonne dreht in dreihundertfünfundsechzig
Tagen. Und bis vor hundertvierzig Jahren
hieß es, die Erde sei eine Scheibe, rings vom Ozean umgeben,und wer den Wasserring durchquere und an den Scheibenrand
gelange, der müsse in den Abgrund der Unendlichkeit
versinken. Bis Kolumbus kam.
So galt es auch als Wahrheit, daß die Zeit unüberwindlich,
unentrinnbar ist, ein Abgrund ins Unendliche. Bis ich kam
und diesen
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