Verirrt in den Zeiten
Künstler ohnegleichen. Und dieser Einzige muß sterben,
vorzeitig, namenlos, und seine Werke, welche durch die Jahrhunderte
hätten leuchten müssen, liegen auf der Brandstatt,
vom Wind verstreute Asche. Zeigt das nicht aufs neue, wie
sinnlos alles ist?
Wer hat nun recht behalten, ich, der starre Gottesleugner,
oder der arme Freund, der meinen gottesleugnerischen Trotz
voll frommen Eifers zu bekehren suchte, der immerdar den
hochgelobten Namen Gottes pries?
Ach, ahnte er nicht sein frühes Ende, hatte er nicht stets gefürchtet,
daß mein »vorzeitiges« Wissen Unheil bringen
werde über mich und über ihn?
Wehe, meine Maschine hat ihn ja getötet! Was war das,
Warnung, Strafe oder Zufall?
Aber, gam su letoba, auch dies zum Guten. Auch diese
letzte, schreckliche Prüfung soll mir eine Lehre sein, ein Fingerzeig.
Hatte ich nicht dort unten in der Kirche die Hände
gefaltet und gebetet? Schwach war ich gewesen, untreu wollte
ich mir werden, abtrünnig meiner Sendung — genarrt durch
einen Zufall, durch Weihrauchdunst, durch einen Lichtreflex.
Aber nun bin ich rechtzeitig gewarnt. Nun weiß ich, was ich
zu erwarten habe, wenn ich auf Gott vertraue. Nein, niemandem
vertrauen, nur mir selbst, und jetzt erst recht den Kampf
beginnen, dem ich in einem Augenblick der Schwäche feig
entsagen wollte!
Nachtschwarz ist der Weltenraum, den wir von goldnemLicht durchflutet glauben, und was das arme, bange Herz als
weisen Schöpfer anbetend ersehnt, ist ein fühlloses Nichts.
Was immer Großes und Erhebendes geschaffen wurde, dem
Nichts ist’s trotzig abgerungen worden.
So schritt ich auf und nieder, vor den Trümmern meiner
Habe, vor dem Leichnam meines Freundes, bald gramvoll sinnend,
bald die Hände ringend, bald düstere Verwünschung
murmelnd.
Tragischer Aberwitz! So fluchte ich der Gottheit, die ich
leugnete.
Achtunddreißigstes Kapitel
D roben hielt ich es nicht länger aus, bei dem Leichnam und
den rauchgeschwärzten Trümmern. Allzusehr verwirrte und
verdüsterte der Anblick mein Gemüt. Ich suchte Fassung,
Sammlung, Klarheit. Ich stieg hinab und wanderte hinaus,
weit hinaus, ins Freie.
Wo heute freundliche Siedlungen liegen und sich wohlbestellte
Felder reihen, dort dehnten sich nun wilde Forste, und
die breite, glatte Landstraße von heute war ein rauher Karrenweg.
In träge Träumerei versunken, ging ich dahin, des Weges
wenig achtend. Dumpfe Schwüle herrschte, es regte sich kein
Laut, kein Lüftchen. Bange Erwartung durchzitterte die
Stille.
In Nürnberg war der Schwedenkönig Gustav Adolf eingezogen,
und vor den Toren der hilfsbereiten Stadt bezog er ein
verschanztes Lager. Und fliehende Landleute brachten die
Kunde, daß an die Spitze der kaiserlichen Soldateska aufs
neue der Wallenstein getreten sei und dem Schwedenkönig
in Eilmärschen mit ungeheurer Heeresmacht entgegen
ziehe.
Viele Stunden mochte ich schon gewandert sein, da lud
eine liebliche Lichtung zur Rast. Waldmeister, Thymian, Lavendelduftete ringsum. Zu meinen Häupten zwitscherte
schüchtern eine Meise, der Buntspecht tat geschäftig seine Arbeit,
und aus dem Waldesdunkel tönte ferne und geheimnisvoll
der Ruf des Kuckucks. Auf einem moosbewachsenen Felsen
lagerte ich mich und gab mich weiter meinen Träumen
hin.
Wie dies meine Gewohnheit war, zog ich Bleistift und Notizblock
hervor, um zu kritzeln. Es war dies ein Taschenkalender
des Jahres 1906, ein ledergebundnes Büchlein, außen
trug es in goldnen Ziffern die Jahreszahl 1906. Ich legte es neben
mich aufs Moos und freute mich am Farbenspiel des
dunklen Leders auf smaragdenem Grunde. Und ließ die Sonnenstrahlen
auf die Jahresziffer leuchten, die Sonne des Jahres
1632 auf das Jahr 1906, und starrte wie entrückt auf dieses
Unding — gleich einem Kinde, das ein buntes Glas vors Auge
hält und nun die ganze Welt verzaubert glaubt.
Plötzlich fuhr mir durch den Sinn ein Zahlenspiel. Am
10. Dezember 1878 wurde ich geboren und am 27. April 1906
verschwand ich aus meiner Zeit. Wieviel Tage war ich damals
alt? Ich nahm den Stift und rechnete: genau 10000 Tage. —
Nun weiter. Den 27. April 1906 hatte ich zuletzt erlebt im
20. Jahrhundert, und den 11. Juli 1632 erblickte ich zuerst im
17. Jahrhundert. Wieviel Tage liegen dazwischen? Genau
100000. Um 100000 Tage war ich zurückversetzt.
Das Resultat der sonderbaren Rechnung: 10000 Tage
hatte ich durchlebt, um 100000 Tage rückzumessen.
War da ein tiefrer Sinn, eine noch unenträtselbare Bedeutung?
Ich sann dem nach, und wie dies meine
Weitere Kostenlose Bücher