Verirrt in den Zeiten
stehe ich. Achtlos schiebt man mich
beiseite, niemand kümmert sich um mich.
Ich bin nicht ehrgeizig und habe nie nach äußrer Auszeichnung
verlangt. Allzusehr bin ich Gleichgültigkeit gewohnt,
mißtrauische Beschränktheit. Aber jetzt knirscht doch etwas
grimmig in mir auf: Immer unbekannt, verkannt, verachtet!
Immer muß ich, in Glut und Frost, auf steinicht dornenvollem
Pfade mühsam weiterkeuchen, indes ich doch dem Adler
gleich in lichten Höhen kreisen könnte. Warum jubeln sie mir
nicht entgegen, warum feiern sie mich nicht bewundernd als
den wunderbaren Retter, als den Bringer unbekannter Wunder?
Wartet nur, ihr da, ihr sollt mich nicht mehr lange, zur Seite
schieben, spotten. Auf die Knie will ich euch zwingen, wenn
ich einmal hoch über euern Häuptern fliege, wenn ich mit Geschützen
vor eurer Stadt erscheine, davon ein einziges die Bastionen
und dieses wichtigtuerische Rathaus in Trümmer
schlägt!
Aber was ist denn los? Worüber haben sie so angelegentlich
zu sprechen?
Soeben haben sie da droben auf der Schranne den drei Juden
Isak Lammfromm, Nathan Lewisch und Michel Pregitzerihr Urteil gesprochen, daß sie als Hostienschänder und Brunnenvergifter,
als Gott dem Allmächtigen, der Natur und der
christlichen Ordnung gehässig, verschmäht und unleidentlich
vorerst zur scharfen Frag’ durch alle gradus verwiesen und sodann
ihr Leib zu Asche verbrannt werden solle. Auch über die
Wittfrau Sabina Starschödel, eine Exulantin aus dem Österreichischen,
ward der Stab gebrochen. Sie wurde zum Rad
kommandiert, weil sie einen Soldaten, der bei ihr im Quartier
lag, erschlagen und verzehrt hatte; sie mit ihren fünf hungernden
Kindern.
Davon sprachen sie nun und tauschten ihre Meinung aus.
Über die drei Juden war nur eine Stimme: freudige Genugtuung.
Was die Witwe anlangte, die gerädert werden sollte,
so meinte ein altes Weiblein mit spitzer Nase und bedächtig
zugekniffnen Lippen, ob man sie nicht doch hätte zum
Schwert begnadigen können, sie habe es aus übergroßer
Desparation getan und nicht für sich, nur um ihrer Kinder
willen. Ach, was sollte jetzt aus den armen Würmern werden?
Die Hungersnot sei schwer; gar viele täten schon, was
in der Bibel geschrieben steht vom Könige Nebukadnezar,
daß sie Gras fräßen. Und der Soldat, den sie umgebracht,
um den sei nicht groß schade, das war ein arger Saufaus
und vertuischer Geselle.
Aber da kam die Alte schön an. Eine dicke Hökerin fuhr sie
giftig an: »Recht wird der Starschödlin geschehen. Und noch
zuwenig. Nicht nur eine Mörderin ist sie, gewißlich auch eine
Malefizhexe. Die Schrödelsäckerin, was meine Nachbarin ist,
die hat mir im Vertrauen erzählt, daß sie einmal zur Dämmerstunde
vor der Hütten der Starschödel, draußen bei der Stadtmauer,
vorbeikommen ist, und da hat es gestunken wie nach
Mäusemist und Teufelsdreck. So riecht’s, wenn eben eine
Hexe ausgeflogen ist. Hab’ mir später selbsten das Flugloch in
der Mauer angesehen, der Rauch ist durchgezogen.«
»Und mit dem Freimann« — fiel eine andere ein —, »mit dem
hat sie auch Glück. Auf sie kommt nicht der muntre Meister
Hans, sondern sein Helfer, der zahme Heinz. Der kann keinWeibsbild lange leiden sehn. Der wird’s ihr schon barmherzig
machen und gleich beim ersten Hiebe mit dem Rad den Kopf
einstoßen.«
»Kann froh sein, die Starschödel« —, sagte die Dicke, »daß
wir beide, ich und die Schrödelsäckerin, reinen Mund gehalten
und nichts angegeben haben vor Gericht. Sonst tät’ sie
schmoren zusammen mit den Jüden.«
»Denkt Euch nur« — warf eine hübsche Blonde ein mit
sanfter Stimme -, »Lammfromm heißt der eine. Nein, was
sich nur diese Jüden vor lustige Namen aushecken!«
Die Kinder tollten umher, in freudiger Erwartung wie vor
einem Volksfest, warfen ihre Mützen in die Luft und sangen:
»Itzig, Itzig, Lammfromm,
Bist ein frommes Lamm,
Darum wirstu gebraten.
Morgen gibt es Hammelbraten.
Bäh, bäh, hepp, hepp!«
Und ich stand da, mitten unter ihnen, und hörte dies und sah.
Wie ein Weißer unter Kannibalen, der zusieht, wie sie ihre
Menschenopfer vor der Schlachtung wild umtanzen. Was
habe ich mit diesen hier gemein? Wie kann ich sie verstehn?
Wie viele Scheiterhaufen müssen flammen, eh’ sie mich verstehn?
Wo führt die Brücke über drei Jahrhunderte?
Aufschrie’s in mir: Nun ist’s genug des bösen Traums! Nun
wache auf! Nun werde ich erwachen!
Wie ich den umwölkten Blick erhob, begegnete ich einem
andern Blicke. Teilnehmend,
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