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Verirrt in den Zeiten

Verirrt in den Zeiten

Titel: Verirrt in den Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Levett
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traulich.
Die alten, wohlbekannten Bücher und die altgewohnte
Stube und die alte, die längst verschollene, die unbekannte
Zeit! Ach, in dieser Stube sucht mich meine Mutter, wartet sie
auf meine Rückkehr! Meine Mutter! . . . Nein, nicht weiterdenken
. . .
    Aufatmend trete ich ans Fenster. Der Garten hat sich kaum
verändert. Nur da und dort sind dicke Stämme, die ich in meiner
Kindheit nicht gesehen hatte, und andre wieder, die ich als
schattig-breite Wipfel kenne, sind noch jung und schmächtig.
Vor allem sie, die treue Freundin meiner Jugend, die Linde
unter meiner Stube. Bis ins Zimmer reckte sie die Äste, und
heute reicht sie noch lange nicht einmal ans Fenster.
    Sanfte Trauer bemächtigte sich meiner, wie sie der Mensch
beim Anblicke der blühenden Natur empfindet: die Jugend,
die sich stets erneuert, und die eigene Vergänglichkeit. Ach,
der Garten hier wird immer wieder grünen, blühen, duften
und ich werde welken und vergehn! Unwiederbringlich bleibt
die Zeit! Was werde ich erreichen? Werde ich mein Werk
vollbringen?
    Aber da raunt mir’s zu, berückend und bedrückend: Der
Garten hier wird grünen, blühen, duften, und du wirst ihn
wiedersehen. In zweieinhalb Jahrhunderten, als Knabe siehst
du ihn doch wieder!
    Schon wiederum das Rätsel, das grauenvolle Wunder. Ich
weiß nicht, bin ich ausgestoßen oder auserkoren, bin ich gezeichnet
oder ausgezeichnet unter allen Menschen? Wo ist
der Anfang, wo das Ende dieses unfaßbaren Kreislaufs? —
    Ich gehe aus, um diesen nagenden Gedanken zu entfliehen.
Zuerst einmal hinüber zu dem Kupferschmiede Barthel Groß,
nachfragen, ob er schon fertig hat, was ich bei ihm bestellte.
Ich kann ihn recht gut leiden, den hünenhaften Mann, mit seinemblonden Schifferbarte und den blauen Augen, aus denen
doch zuweilen gehörige Verschlagenheit hervorlugt, und ich
verweile gern in seiner Werkstatt, wo aus jedem Winkel der
Geist des deutschen Handwerks atmet. Aber ich finde bei ihm
nicht Gegenliebe, bei ihm so wenig wie bei andern.
    Warum meiden sie mich alle? Umwittert mich die ferne
Zeit, aus der ich stamme, und umgürtet mich mit einem Ringe
von Unnahbarkeit, oder bin ich überhaupt, für alle Zeiten,
verdammt zur Einsamkeit?
    »Noch nicht fertig, Eure Arbeit«, brummt der Meister hinterm
Ambos, schmettert mit dem hochgeschwungnen Hammer
auf eine glühend rote Platte, daß die Funken stieben, und
blickt mich an, als habe mir der Hieb gegolten.
    »Hatt’ all mein Lebtag nit mit solchem Werk zu tun. Will
besser nit erst fragen, was es soll. Aber« — er reckte sich und
strich den Schweiß von seiner Stirne — »was soll man tun? Die
Zeit ist schwer. So mich einer gar hieße, dem Teufel seine
Hörner mit Kupfer ausplattieren, und er bezahlt — ich tät’s.«
    Er lachte derb und krümmte seine kurzen, dicken Finger
gleich Hörnern — halb gegen mich.
    Der Spott des Pöbels entwaffnet uns viel leichter als die begründete
Zurechtweisung Verständiger. Ich schwieg verlegen
und schaute rings umher. Aber beim Anblick all des Handwerkszeugs
regte sich in mir der Fachmann; in zwei Tagen
könnte ich es so verbessern, daß es die zwanzigfache Arbeit
leistet. Doch ich besann mich rechtzeitig und schwieg und
ging.
    Vor dem Zeughaus steht ein Musketier auf Schildwacht
und blickt gelangweilt nach dem Stand der Sonne. Sie steht
schon tief. Lichtgetränkte Wolken segeln auf dem seidig
blauen Himmel. Über den dunkeln Wäldern breitet sich ein
purpurfarbner Saum und taucht hier in der Stadt die Dinge
und die Menschen in entrückten Schimmer. Ringsum atmet
die Natur sanfte Heiterkeit und Frieden, so daß man sich verwundert
fragen muß, warum denn nur die Menschen Böses
tun und sich bekriegen.
    Vor dem Rathaus wartet eine Menge Menschen. In kleinen
Gruppen stehen sie beisammen oder gehen auf und ab, sprechen
halblaut miteinander und blicken nach dem Rathaus.
    Nun öffnet sich das Tor, die Magistratspersonen treten auf
die Straße, und es beginnt ein allgemeines Grüßen und Komplimentieren.
    Ich weiß nicht, ich finde nicht die rechte Einstellung zu den
Dingen und den Menschen. Warum denn sonst erscheint mir
alles, was sie tun und sprechen, so gleichgültig, fast lächerlich?
Ich komme mir vor wie Gulliver, als er aus dem Land der
Riesen heimkam und ihm nun alles zwerghaft schien, so daß
er den Kutschern auf der Straße zurief, sie mögen ausweichen,
damit er sie nicht zertrete. Ist es, weil ich alles aus der
fernen Höhe von drei Jahrhunderten betrachte?
    Inmitten der Menge

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