Veritas
im germanischen Idiom in sein Heftchen zu übertragen. Sie mussten in einer besonderen, äußerst schwer zu entziffernden Frakturschreibschrift geschrieben werden, die man hier «Kurrent» nannte.
Zwar verhielt es sich tatsächlich so, wie Abbé Melani gesagt hatte, dass Italienisch in Wien die Sprache des Hofes war und sogar die Herrscher ihre Briefe an den Kaiser auf Italienisch und nicht auf Deutsch schreiben mussten. Doch den einfachen Leuten aus dem Volk war das Deutsche lieber; darum war es für einen Kaminkehrer durchaus dienlich, um der Ausübung seines Gewerbes willen, wenigstens über gewisse Grundkenntnisse zu verfugen.
Solches bedenkend, hatte ich das Salär, das Atto für einen italienischen Sprachlehrer bestimmt hatte, dafür verwendet, einen Präzeptor in der hiesigen Zunge zu bezahlen, denn meinen Sohn in seiner Muttersprache auszubilden, wollte ich selbst besorgen, wie ich es schon mit Erfolg bei seinen beiden Schwestern getan hatte. Also empfingen Cloridia, der Kleine und ich jeden zweiten Abend den Lehrer, der ein paar Stunden lang versuchte, unseren armen Geistern auf den Pfaden des unergründlichen Universums der teutonischen Sprache heimzuleuchten. Dass diese über alle Maßen schwierig sei und mit anderen Sprachen nahezu nichts gemein habe, beklagte schon Kardinal Piccolomini, und es ist bewiesen, seitdem Giovanni da Capistrano bei seinem Aufenthalte in Wien seine Predigten gegen die Türken von der Kanzel am Karmeliterplatz auf Lateinisch hielt. Hatte er geendet, überließ er einem Dolmetscher das Wort, und dieser benötigte drei Stunden, um alles auf Deutsch zu wiederholen.
Während das Bübchen schnell Fortschritte machte, mühten mein Weib und ich uns qualvoll ab. Mehr Erfolg hatten wir zum Glück beim Lesen, daher konnte ich, wie soeben angedeutet, am späten Vormittage jenes 9. April des Jahres 1711 in der kurzen Pause nach dem Mittagsmahl (fast) mühelos den Neuen Crackauer Schreib-Calender überfliegen, verfasst von Matthias Gentilli, dem Grafen Rodari aus Trient. Mein Söhnchen kritzelte unterdessen zu meinen Füßen etwas und wartete darauf, mit mir zur Arbeit zurückzukehren.
Wie jeder Rauchfangkehrermeister in Wien hatte auch ich nämlich meinen Lehrjungen, und dieser war natürlich mein Kleiner, der mit acht Jahren schon mehr gelitten, aber auch mehr gelernt hatte als ein Kind, das doppelt so alt war.
Kurz darauf erschien Cloridia, um mich abzuholen.
«Los, lauf und sieh dir das an! Sie werden gleich ihren Einzug in der Straße halten. Ich muss zurück ins Palais.»
Dank geschickter Verhandlungen der Chormeisterin hatte meine Frau nämlich eine sehr respektable Anstellung unweit des Ordenshauses gefunden. In der Himmelpfortgasse lag ein Gebäude von höchster Bedeutung: das Winterpalais Seiner Durchlaucht Prinz Eugen von Savoyen, Präsident des Kaiserlichen Hofkriegsrates, ruhmreicher Heerführer im Krieg gegen Frankreich und triumphaler Sieger über die Türken. Nun, an diesem Tag sollte in seinem Palais ein wichtiges Ereignis statthaben: Um die Mittagsstunde wurde die Ankunft einer osmanischen Gesandtschaft aus Konstantinopel erwartet. Eine große Gelegenheit für meine Gattin, die in Rom, aber von einer türkischen Mutter geboren war, einer armen, in die Hände der Feinde gefallenen Sklavin.
Vor zwei Tagen, am Dienstag, war bei der Leopoldinsel, in jenem Abschnitt der Donau, der nächst den Bollwerken vorbeifließt, mit fünf Schiffen und einem Gefolge aus etwa zwanzig Personen der Türkische Aga Cefulah Capichi Pascha in Wien eingetroffen, und man hatte ihm eine würdige Unterkunft auf der besagten Insel angeboten. Was der Botschafter der Hohen Pforte aber in Wien wollte, war durchaus nicht begreiflich.
Der Frieden mit den Osmanen währte nunmehr seit vielen Jahren, seit jenem fernen 11. September 1697, als Prinz Eugen sie in der Schlacht bei Zenta geschlagen und gezwungen hatte, in den nachfolgenden Friedensschluss von Karlowitz einzuwilligen. Krieg herrschte derzeit nicht mehr mit den Ungläubigen, sondern mit dem durch und durch katholischen Frankreich, wegen der spanischen Thronfolge. Die Wogen der sonst so stürmischen Beziehungen zur Pforte schienen geglättet. Sogar im friedlosen Ungarn, wo sich die Kaiserlichen Heere und jene Mohammeds seit Jahrhunderten bekämpften, schienen die kaiserfeindlichen Fürsten, die immer im Aufruhr und zum Kampfe bereit waren, von unserem geliebten Joseph I., nicht umsonst «der Sieghafte» genannt, endlich
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