Veritas
wollt. Er versprach, auf jeden Fall zu kommen.»
Als ich vor ein paar Tagen mit Abbé Melani in diesem Kaffeehaus gesessen hatte, war es fast leer gewesen, nun aber war es sehr gut besucht. Kavaliere konversierten artig in kleinen Gruppen, manch ein betagter Edelmann saß in einer einsamen Ecke mit einem Buche in der Hand, die Ober liefen eilig umher, servierten, säuberten die Tische und richteten sie her, wenn Gäste aufbrachen.
«Schätzt Euch glücklich, solange Ihr jung und stark seid. So wirkt Ihr, zumindest Eurer Stimme nach zu urteilen», hub Atto an, nachdem er sich neben den Griechen gesetzt hatte, «meine Gesundheit schwankt immerfort wegen des Wechsels der Jahreszeiten.»
«Das bedaure ich sehr. Ich hoffe, Ihr erholt Euch bald wieder», erwiderte mein Gehilfe lakonisch.
«Schwerer noch aber lastet das Alter auf mir», fügte Atto hinzu, «und die güldenen Adern, die mich ohne Unterlass plagen. Gestern Nacht wähnte ich fast, sterben zu müssen.»
Armer Simonis, dachte ich, jetzt ist er an der Reihe, Attos Gejammer zu ertragen. Hoffentlich würde Penicek bald auftauchen.
«Auch vor einigen Jahren», fuhr Atto fort, «lösten der Wetterumschwung und die Schneeschmelze ein gewaltiges Revoltieren meiner Körpersäfte aus. Ich war des Morgens aufgebrochen, einem lieben Freund auf dem Lande meine Aufwartung zu machen, musste aber alsbald zurückkehren, ohne ihn zu sehen.»
Atto wiederholte für Simonis, was er mir schon kurz zuvor bei der Probe zum Heiligen Alexius erzählt hatte, doch diesmal verschwieg er den Namen des Ministers Torcy und was ihn noch als französischen Spion verraten hätte.
Eine fettleibige, mürrische Frau, die ich gewöhnlich an der Kasse sitzen sah, kam, unsere Bestellung entgegenzunehmen.
«Schade», flüsterte Atto, als sie gegangen war, «das war wohl nicht jene reizende Bedienung, die mir letztes Mal das Schokoladenkügelchen mit Marzipan schenkte, habe ich recht, Junge?»
«Nein, Herr Atto. Sie ist offenbar heute nicht da», antwortete ich, nachdem ich zwischen den Tischen vergeblich nach dem rabenschwarzen Schopf des jungen Frauenzimmers Ausschau gehalten hatte.
Wahrhaftig, dachte ich lächelnd, als alter Mensch wird man wieder zum Kind. Vor zehn Jahren noch hätte Atto sich gewiss nicht von der Geste eines Serviermädchens rühren lassen.
Die sauertöpfische Kassiererin kehrte an unseren Tisch zurück und stellte uns mit finsterem Blick Kaffee, Sahne und die klassischen Wiener Kipfel hin.
«Der Blutfluss aus den Hämorrhoiden fesselte mich den ganzen restlichen Tag an den Toilettenstuhl», setzte Atto wieder an, während er den heißen Kaffee schlürfte und an einem rosigen Lokum knabberte, um das bittere asiatische Getränk zu versüßen, «und ich wäre fast daran erstickt, wenn ich nicht rechtzeitig auf den Stuhl gelangt wäre und darob die Bequemlichkeit und Freiheit gehabt hätte, mich ganz dem Werke hinzugeben, welches die Natur unternahm, mich zu heilen. Und als sie mir endlich so viel Blut abgenommen, wie sie für nötig hielt, ließ sie mich wieder gesunden. Der Arzt nannte es fast ein Wunder und schrieb es meiner guten Konstitution zu. Ihr könnt es nicht wissen, aber obwohl ich nicht mehr lesen und eigenhändig schreiben kann, gewährt Gott mir doch die große Gnade, meinen Geist jung zu erhalten, ohngeachtet der fünfundachtzig Jahre, welche ich am 30. des vergangenen Monats vollendet habe.»
Während Atto über seine güldenen Adern und über die Wunder der Langlebigkeit räsonierte, flüsterte ich Cloridia zu:
«Ich bitte dich, versuch den Abbé zu überreden, so bald wie möglich ins Bett zu gehen. Ich will ihn nicht länger am Hals haben.»
«Hast du Angst, ihm wieder ins Netz zu gehen?», lächelte sie. «Sei unbesorgt, diesmal kann er dich nicht reinlegen: Ich bin ja da! Mich becirct er nicht, der gute Abbé. Wichtig ist, dass du nie mit ihm allein bist.»
Das verdross mich. Meine Frau schien ja großes Vertrauen in mich zu hegen! Obwohl sie guten Grund hatte, war mir ihre peinliche mütterliche Art, mich auf meine Beschränktheit aufmerksam zu machen, immer unerträglich gewesen. Ich verzog den Mund und sagte kein Wort mehr.
«Was ist dieses Zeug? Ein Croissant?», fragte Atto, indem er das Kipfel auf dem Tablett neben seiner Tasse berührte.
«Im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns heißen sie Kipfel», erklärte Simonis höflich. «Es heißt, sie seien vor etwa dreißig Jahren hier in der Blauen Flasche von einem armenischen
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