Veritas
Zeitpunkt einen unterschiedlichen Preis, damit die verschiedenen gesellschaftlichen Stände ungestört tafeln konnten. Auf ebendiese Weise waren auch die anderen Momente des Tages unterteilt, sodass man wohl sagen durfte, dass in Wien die Sonne nicht für alle schien.
Die Kaiserliche Urbe funktionierte wie das Proszenium eines Balletttheaters, wo die Künstler in streng nach Wichtigkeit aufgeteilten Staffeln Einzug halten und eine neue Reihe Tänzer erst dann auf der Bühne erscheint, wenn die andere sie verlassen hat.
Damit nun aber jede gesellschaftliche Schicht bequem ihren Platz im Tagesverlauf fände, hatte die Obrigkeit angeordnet, der Tag solle für die niedersten Stände nicht mit dem Aufgang der Sonne beginnen, wie für den Rest des Erdkreises, sondern in tiefer Nacht.
Ich war erschrocken von meiner Bettstatt aufgesprungen, als vor zwei Monaten, einen Tag nach unserer Ankunft in Wien, der dröhnende Schrei des Nachtwächters die Fenstergläser hatte erzittern lassen: «Haußknecht, steh auf in Gottisnam, der helli Tag bricht schon herann!»
In Wahrheit war der helle Tag noch weit entfernt: Die Reisependüle, die ich vor der Abfahrt vom Darlehen Melanis erworben hatte, zeigte drei Uhr nachts. Und es war kein böser Traum. Wenig später verkündete das Primglöcklein vom Stephansdom den Beginn des Tages. Wie ich alsbald lernen sollte, gab es, hatte man sein gebieterisches Klingeln einmal vernommen, keine Ruhe mehr: Die Uhrenwächter schlugen jede Viertelstunde, indem sie direkt aus dem Fenster ihrer Wohnstätten an einem langen, mit dem Hämmerchen der Glocke verbundenen Draht zogen. So schlugen sie das erste, das zweite und das dritte Viertel jeder Stunde; vom Schlagen des vierten hingegen waren sie befreit, denn man befürchtete, die fast unmöglich zu bewerkstelligende Gleichzeitigkeit mit der Stundenglocke des Stephansdoms könne Verwirrung über die genaue Uhrzeit hervorrufen. Kurzum, die Zeitmessung war in Wien wahrhaftig keine Angelegenheit der persönlichen Meinung.
Da der Tag nachts begann und man sich die Sonne folglich für die Stundenzählung nicht zunutze machen konnte, wimmelte es auf den Straßen und Plätzen der Kaiserstadt von Uhren: Sie prangten nicht nur auf dem Rathaus und sämtlichen öffentlichen Gebäuden, sondern auch auf Klöstern, Residenzen des Adels und Häusern wohlhabender Leute. In den Innenräumen hängte man Uhren aus Eisen an die Wände. Es war eine regelrechte Manie, dessenthalben es hier natürlich keine schlichten Uhrmacher gab, wie in Rom, sondern zuvörderst die allgemeine Unterteilung zwischen Großuhrmachern und Kleinuhrmachern, je nachdem, ob sie Turmuhren oder Taschenuhren herstellten; dann gab es die Zifferblattschreiber, welche sich wiederum von den Blattstechern unterschieden, so wie auch die Uhrzeigerhersteller etwas anderes waren als diejenigen, die Uhrfedern anfertigten. Über die Taschenuhren hatten sogar die unvermeidlichen Jesuiten disputiert und waren – nach langem Diskurrieren, ob diese verstattet und notwendig seien – nach Jesuitenart zu einer salomonischen Lösung gelangt: Taschenuhren waren auf Reisen erlaubt, wohingegen im Hause eine einzige Wanduhr für alle genügen musste.
Nach dem unerbittlichen Gesetz der Uhren beginnt um drei Uhr in der Früh also das harte Tagwerk. Um diese Zeit bringen Küchen-, Lust- und Ziergärtner bereits Gemüse und Pflanzen in Butten auf den Markt. Um halb vier öffnen die Branntweingewölbe und die Hütten der Garköche bei den Stadttoren, wo die Tagelöhner, Maurer, Tischler, Holzhauer und Kutscher frühstücken. Um vier Uhr beginnen die Handwerker und Diener mit der Arbeit. Die Stadttore öffnen sich: Milchfrauen, Bauern und Händler mit Obst, Butter und Eiern strömen zu den Marktplätzen. Wir Schornsteinfeger und auch die Ziegeldecker können uns glücklich preisen: Im Winter beginnen wir wegen der Dunkelheit nicht vor sechs Uhr.
Wenn ich mich in Rom noch vor Aufgang der Sonne auf den Weg machte, um die umliegenden Ortschaften rechtzeitig zu erreichen, wanderte ich durch eine dunkle, gespenstische, nur von bedrohlichen Schatten bevölkerte Stadt. In Wien dagegen herrscht schon um vier Uhr morgens ein so geschäftiges Gewimmel, dass man glauben möchte, es sei eine Sonnenfinsternis, die den Himmel schwärzt, und nicht die frühe Morgenstunde.
Um fünf Uhr kann man schon jedes nur erdenkliche Nahrungsmittel kaufen; um halb sechs öffnen Beisln und Bierhäusl. Gärtner und Bauern haben ihre Waren schon in die
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