Veritas
die helle Stimme des Soprans sich nach den Noten Camillas unter den Voluten der Kapelle ausdehnte, sann ich über jene seltsame Koinzidenz nach, die meinen Geist schon am Abend zuvor beschäftigt hatte: Gleichzeitig waren die Musik und der Name Rossi in mein Leben zurückgekehrt. In Rom hatte ich die Arien von Atto Melanis Lehrmeister Luigi Rossi kennengelernt, hier die Chormeisterin Camilla de’ Rossi. Ob es sich wohl doch nicht um einen Zufall handelte? Vielleicht brachten Namen bestimmte Ereignisse mit sich? Und wenn dem so war, konnten Worte dann also die Dinge lenken?
Indem ich mir selbst solch gewichtige Fragen stellte, war das Stück geendet. Camilla hatte begonnen, die Sängerin und die Musiker zu belehren, wie die soeben ausgeführte Stelle besser zu gestalten sei, und einzelne Teile wurden erneut geprobt. Wie immer erklärte die Chormeisterin überaus gewandt, welche Akzente sie vom Gesang wünschte, welche Seufzer von den Blockflöten, welche Einwürfe von den griesgrämigen Fagotten.
Als es erneut eine Pause gab, kehrte Camilla zu uns zurück. Sogleich drängte ich sie, ihre Erzählung fortzusetzen. Und so berichtete sie, sei habe noch sehr jung einen Königlichen Hofmusiker geheiratet, einen Komponisten im Dienste des Erstgeborenen des Kaisers, des damals noch jugendlichen Joseph I.
Der Hofkomponist war der Musiklehrer Camillas, die sich zu jener Zeit mit ihrer Mutter schon in Wien aufhielt. Er war Italiener und hieß Francesco.
«Hier im Reich jedoch», erklärte Camilla, «wo alle Namen eingedeutscht werden, nannte man ihn Franz. Franz Rossi.»
«Rossi? Also lautet Euer Nachname Rossi, nicht de’ Rossi?», fragte ich.
«Ursprünglich ja. Das adelige Patronymikum de’ wurde Franz, kurz bevor er starb, großzügig von Ihrer Majestät Joseph I. verliehen.»
Ihr Gemahl, erzählte Camilla weiter, habe sie die Kunst des Gesangs gelehrt und mehr noch jene der Komposition. Auch sei er mit ihr durch die Königshöfe Europas gezogen, wo sie die neuesten musikalischen Moden studierten, welche sie nach ihrer Rückkehr am Kaiserlichen Hofe einzuführen gedachten. In Italien waren sie fast überall: in Florenz und Rom, Bologna und Venedig. Tagsüber besuchten sie die Werkstätten der Lautenbauer, erforschten Theaterhäuser, um die dortige Akustik zu prüfen, trafen Virtuosen des Gesangs oder des Cembalos, um ihnen ihre Kunstgriffe zu entlocken, oder machten Fürsten, Kardinälen und Hochwohlgeborenen Personen ihre Aufwartung, um sich deren Gunst zu sichern. Des Nachts kämpften sie gegen den Schlaf, derweil sie bei Kerzenlicht Partituren abschrieben, die sie in Wien dem äußerst feinen Ohr Ihrer Kaiserlichen Majestät darbringen wollten.
Nach dieser Erzählung verließ Camilla uns wieder, denn sie musste die Probe fortsetzen.
Die Chormeisterin ließ ihre Musiker das Stück wieder und wieder proben, und während die Kapelle erneut von Musik durchdrungen wurde, gab ich mich der süßen Woge der Erinnerung hin.
Rossi! Das war also der eigentliche Name von Camillas verstorbenem Ehemann. Kein ähnlicher, wie ich anfangs geglaubt, sondern der gleiche Name wie der des Seigneur Luigi, Attos geliebten Lehrers in Rom und Mentors seiner Jugendjahre. Luigi Rossi hatte den blutjungen Kastraten Atto Melani mit nach Paris genommen und ihm als Protagonisten des Orfeo zu immensem Ruhme verholfen. Mit jenem großen Melodram hatte Kardinal Mazarin seine eigene Größe feiern wollen, die nichts über sich kannte als die mächtigen Gewalten des Himmels.
Als griffe er mein Stichwort auf, sang der Sopran:
Cielo , pietoso cielo …
Und wieder einmal kehrte ich im Geiste zu den Ereignissen vor achtundzwanzig Jahren in der Locanda des Donzello in Rom zurück. Dort, in den Mauern des Gasthauses, wo ich Abbé Melani kennengelernt hatte, war kein Tag vergangen, ohne dass ich nicht wenigstens einen Vers seines Seigneur Luigi Rossi gehört hätte, vorgetragen von Attos verblasster, aber immer noch leidenschaftlicher Stimme.
Zitternd vor Zorn erklang nun die Stimme der verlassenen Braut:
Un dardo , un lampo , un telo
Attenderò da te
Ferisci , arresta , esanima
Chi mi mancò di fé …
In meiner Erinnerung entströmte derweil ein Tremolo herrlicher Töne der Kehle des Abbé Melani; er besang das herzzerreißende Gedenken an seinen Lehrer (und noch andere Dinge, die ich mir nicht einmal vorzustellen vermochte), und fassungslos stand ich, ein unwissender Hausbursche, beim Klang dieser göttlichen Melodien, wie ich sie nie
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