Veritas
bevor die Kaiserliche Familie wieder aus dem Dom trat, bereits zur Hofburg gelaufen, in deren großem Innenhof der Zug enden würde, wie wir wussten.
Hier hatten die Vorausschauenden sich schon ein Plätzchen gesichert: in Gruppen auf dem großen Hof zusammengedrängt, Säulen erklimmend oder, wenn sie noch Kinder waren, auf den Schultern der Väter hockend. Auch auf die Gefahr hin, nur einen flüchtigen Blick zu erhaschen, beschloss ich, mich vor dem Schlund des dunklen Eingangstores zu postieren, durch welches das kaiserliche Geleit einziehen würde.
In dem großen Innenhof der Residenz fiel der Schnee in dichten, aber feinen Flocken, die Dächer der Hofburg strahlten geisterhaft in hellem Weiß. Inmitten einer Schar frierender Zuschauer, das Gesicht vor dem kalten Wind schützend, wartete auch ich auf die Ankunft der Prozession.
Dann war der Augenblick gekommen: Durch das große Portal hörte ich das Klingeln der Schlittenglöckchen, und zwei Diener mit dem Kaiserlichen Wappen tauchten auf, die dem Zug vorausliefen, gefolgt von einem zweiten Paar und noch weiteren. Schließlich erschien das erste Gespann weißer Pferde mit feuerrotem Zaumzeug, den Rücken mit künstlichen Adlerflügeln geschmückt. Sie zogen den Schlitten, darin Er Höchstpersönlich, der Kaiser, des Frostes nicht achtend, aufrecht saß.
Er schien mir nie enden zu dürfen, jener Augenblick, da ich ihn erblickte, wenige Schritte von mir entfernt, und seine erhabene Gestalt prägte sich mir reizend für immer in die Seele und tief in meinen Geist.
Hoch und wohlgeformt die Stirn, rotblond das Haar, markant die Nase, die schöne Gesichtsfarbe gerötet von der Peitsche des Frostes, groß und fleischig der zu einem Lächeln geöffnete Mund, ein Geschenk für jeden von uns in der ununterscheidbaren Masse – das ist es, was ich zuvörderst von ihm sah, das ist es, was meine zur Verehrung schon geneigte Seele wie ein Blitzstrahl traf. Während ich ihn in solcher Weise bewundernd betrachtete, umarmten die großen Augen, aus denen die süße Bläue der Jugend leuchtete, und die heiter gebogenen Brauen mit einem einzigen Blick uns alle. In dieser Handvoll Sekunden konnte ich auch seine nicht übergroße und wohlproportionierte Statur erahnen, die starken Schultern, den freien, entschlossenen Schritt.
Er hatte mich erobert und Cloridia mit mir. Von diesem Moment an wandelte sich meine Zuneigung zu dem jungen Herrscher in leidenschaftliche Anhänglichkeit und Treue. Noch in die Betrachtung seiner Gestalt vertieft, sagte ich mir, dass ein derart vorzüglicher Spross das vollkommene Bild der heroischsten Tugenden sei, deren sich Ägypten mit seinem Vexori, Assyrien mit seinem Nino, Persien mit seinem Cyrus, Griechenland mit seinem Epaminondas und Rom mit seinem Pompeius rühmen durften. In nicht einmal sechs Jahren Regentschaft hatte er neunundzwanzig Siege davongetragen! Und mit welch unermüdlichem Eifer hatte er bei den berühmten Belagerungen Landaus gekämpft! Das Wagnis der Kühnsten galt vor ihm nur als Halbherzigkeit, die Kampfeslust der Veteranen erschien ihm als Trägheit, da in seiner Brust ein rasendes Verlangen nach Ruhm glühte, welches, in die kriegerischen Herzen der Germanen gepflanzt, gut zweimal den raschen Triumph an einer so bedeutenden Stätte herbeigeführt hatte, ob sie gleich mit mutiger Beharrlichkeit von den Tapfersten unter den Franzosen verteidigt worden war. Nicht einmal dem Durchlauchtigsten Prinzen Eugen war es gelungen, sie zu erobern! Wahrlich, die Siege des Erhabenen Joseph I. hatten ihresgleichen nur in denen des Altertums: jener des Königs Cyrus gegen Krösus, wodurch er das riesige lydische Reich eroberte; der Sieg des Themistokles gegen Xerxes, die Rache Griechenlands für die grausamste Sklaverei, nachdem es von einer Million bewaffneter Barbaren unterdrückt ward; jener Hannibals gegen die Römer bei Cannae, welcher den Ort der Schlacht für alle zukünftigen Jahrhunderte zum geflügelten Wort für eine vernichtende Niederlage machte; und schließlich der blutige Sieg Karls V. auf den Feldern von Pavia, bei dem Franz I., der Verwegenste jenes Jahrhunderts, bezwungen wurde. Recht betrachtet, sagte ich mir, nunmehr emporschwebend zu den Gipfeln der Bewunderung, waren die Triumphe Josephs des Sieghaften all diesen Heldentaten überlegen. Welcher der Römischen Kaiser konnte sich während seiner ganzen Regentschaft so überwältigender Erfolge rühmen wie er in nur drei Jahren? Seine Siege waren allenfalls jenen
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