Verkehrt!
herumzulaufen. Er ist weg, und er geht nicht mehr ans Telefon. Morgen werde ich ihn das nächste Mal sehen, wenn er in die Schule kommt. Wenn!
Mir läuft ein Schauer über den Rücken, trotz der Hitze. Sterne blitzen vor meinen Augen auf, und mir ist schlecht.
Recht hat er, niemand, dem ich die Geschichte erzählen würde, würde mir glauben. Selbst wenn ich Details aus meiner Kindheit nennen würde. Sie würden denken, er hätte sie mir erzählt und wir würden uns einen Jux erlauben, einen Streich. Und er würde das sogar zugeben. Niemand würde die Wahrheit glauben.
Ich bin verloren.
Ein Schluchzer fährt unangekündigt über meine Lippen. Mutti fehlt mir. Ich könnte sie besuchen, dazu müsste ich ihn besuchen, bei mir.
Sie wird sagen, was ist das denn für ein Assi.
Neben den zwiebelförmigen Steinplatten zwischen meinen Füßen sprießt Unkraut zentimeterhoch. Ausgedrückte Zigarettenkippen, zwei Kronkorken, eine zermatschte Fritte.
Ein Schatten fällt über mich.
– Nicht rumlungern hier, sagt der Mann von der City-Streife.
– Ich sitze doch nur, sage ich und schließe dabei die Augen.
– Solltest du nicht in der Schule sitzen?!
Ich stehe auf. Von der anderen Seite zeigt mir Vlad den Daumen hoch und grinst. Die beiden Wachmänner winken sich kurz zu.
– Habe ich auch Fußgängerzonenverbot?
– Lust auf Personalienfeststellung?
Ich schiebe mich an ihm vorbei, lasse den Akkordeonspieler mit seiner Version von
Imagine
stehen.
43
Als Erstes rieche ich den süßlich-herzhaften Duft, der jede Kirmes schon ein paar Straßen eher ankündigt, bevor man die Buden und Karussells auf dem Marktplatz sieht. Der Geruch nach Popcorn, Bratwürstchen und Zuckerwatte, dazu verschiedene Nummer-eins-Hits aus krachenden Lautsprechern, elektronische Countdown-Melodien und die unverständlichen Ansagen und Versprechungen der Betreiber.
Dies ist das erste Mal, dass ich machen kann, was ich will, das erste Mal, dass ich genug Geld habe, für alles, einfach alles. Die Welt gehört mir.
Nicht mal vor der Achterbahn muss ich anstehen, kein Wunder, noch sind alle in der Schule. Leider ist kein anständiges Mädel dabei, alle zu jung oder zu alt. Gut, außer mir. Hehehe.
Ruck, zuck zieht die Antriebskette die Wagen die Steigung hoch, wächst der Horizont, schaue ich über die Dächer der umliegenden Häuser. Nur das Riesenrad ist höher. Für einen Moment scheint die Bahn still zu stehen, dann rast sie in die Tiefe, mein Magen kribbelt angenehm, um mich herum wird geschrien. Einige steile Kurven, Schikanen, mein Kopf wird hin- und hergeschleudert, das laute Geratter der Ketten unter mir, kein Looping, aber nicht schlecht für den Anfang.
Möglichst bald werde ich in einen der großen Freizeitparks mit Wasserbobbahn und Achterbahn im Dunklen fahren.
Ich bin noch nicht ganz ausgestiegen, da wird mein Blick auf die SNAKE gelenkt. Angelockt von den lauten Beats, steuere ich darauf zu.
Am Kassenhäuschen rauscht die SNAKE dicht an mir vorbei, reißt der Fahrtwind an meinem T-Shirt. Fünf Chips für den Preis von vieren.
Da drehe ich gleich ein paar Runden drauf.
Nachdem sie angehalten hat, wandere ich entlang des schmalen Steges auf die Rückseite, schmeiße mich in einen leeren Wagen und klappe die silbern glänzende Stange runter. In der Mitte funkelt die Weltkugel, zusammengesetzt aus Millionen Mosaikteilchen aus farbigem Glas. Getragen wird sie von dem Krater eines Vulkans, dessen Kegel zahlreiche Risse aufweist, in denen es rot glüht und pulsiert, und der aussieht, als würde er im nächsten Augenblick auseinanderfliegen.
Meine Handymelodie startet, ich drücke weg.
– Chip, sagt der junge Angestellte, der neben meinem Wagen steht.
Ich lege ihm das rosa Stück Plastik mit dem goldenen Aufdruck in seine ölige Hand mit den heruntergekauten Fingernägeln. Mit der anderen hält er sich an einer Stange fest, ein Bein über das andere geschlagen, Tattoo am Hals, kaputte Jeans, löchriges T-Shirt von Metallica.
– Allein unterwegs?, fragt er mich.
Ich bin überrascht. Ich muss mich erst daran gewöhnen, angesprochen zu werden. Sonst ist mir das nie passiert.
– Ja.
Die SNAKE ruckt an. Er stellt sein Bein auf den Einstiegsrahmen und hält sich weiter fest. Dass wir uns bewegen, scheint er gar nicht zu bemerken.
– Keine Schule?
Ihm fehlen zwei Zähne vorne, einer oben, einer unten.
– Nein.
– Machst du blau?!
Wir nehmen Geschwindigkeit auf, ich halte mich an der silbernen Stange vor mir
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