Verlangen
alles ihre Schuld, und sie wußte es. Lucas befand sich nur in dieser Lage, weil er ihren Wünschen wider besseren Wissens nachgekommen war.
Sie hatte nicht nur ihren eigenen Ruf und die gesellschaftliche Stellung ihrer Tante aufs Spiel gesetzt, sondern ebenso Lucas’ Ehre und Position gefährdet.
»Die Schuld trage allein ich«, sagte Victoria, während sie auf ihre geballten Fäuste starrte. »Wenn Lord Stonevale mir die Ehre zuteil werden läßt, mich zu seiner Frau machen zu wollen, so werde ich dieses Angebot dankbar annehmen.«
Ihren Worten folgte angespannte Stille. Als Victoria erneut aufsah, stellte sie fest, daß ihre Tante etwas gelassener wirkte, doch sie hatte nur Augen für Lucas, der sie intensiv ansah.
Ohne ein Wort verließ er seinen Platz neben dem Ofen und näherte sich ihr. Sanft zog er sie von ihrem Stuhl hoch. »Es ist mir eine Ehre. Danke, Vicky. Ich gebe dir mein Wort, daß ich versuchen werde, dich glücklich zu machen.«
Sie lächelte, und ein Großteil der Spannung, die sie verspürt hatte, löste sich bei der Berührung seiner Hände auf. Sie liebte ihn, und er mochte sie offensichtlich sehr gern. »Die Ehe schien mir immer ein schlimmeres Schicksal als der Tod zu sein, aber ich denke, mit Ihnen werde ich die ganze Sache in einem anderen Licht sehen, Graf.«
Lucas grinste, und seine Augen strahlten vor Zufriedenheit. Er küßte sie schnell besitzergreifend auf die Nasenspitze und wandte sich Cleo zu. »Nun gut, Madam, das Schlimmste ist überstanden. Die junge Dame hat sich in ihr Schicksal ergeben. Jetzt müssen wir schnell und umsichtig handeln.«
Cleo zog die Brauen hoch. »Irgendwie habe ich bereits den Eindruck gewonnen, daß Sie dafür Sorge tragen, Stonevale. Ich überlasse alles Ihnen.«
Ein paar Stunden später mußte Victoria amüsiert eingestehen, daß sich die Vermutung ihrer Tante als vollkommen richtig erwiesen hatte. Die Dinge hatten sich mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit entwickelt, und sie und Lucas waren am frühen Morgen getraut worden. Im Haushalt ihrer Tante herrschte helle Aufregung, während Victorias Taschen für die überstürzte Abreise nach Stonevale gepackt wurden. Lucas hatte angeordnet, daß es das Beste für alle Betroffenen sei, wenn sie aufs Land führen, und Tante Cleo hatte ihm zugestimmt.
»Wir werden allen erzählen, daß wegen deines fortgeschrittenen Alters keiner von euch beiden eine förmliche Hochzeitsfeier wünschte«, hatte Cleo Victoria erklärt, als sie Lucas’ Pläne erläu-terte. Lucas selbst war nicht da. Er hatte sich sofort nach der kurzen Zeremonie entschuldigt, da er in seine eigene Stadtwohnung wollte, um alles für die Abreise vorzubereiten.
Wegen des »fortgeschrittenen Alters« hatte Victoria zwar die Nase gerümpft, doch die Richtigkeit des Arguments konnte sie nicht in Frage stellen. Es war eine dürftige Entschuldigung für eine derart überstürzte Hochzeit, doch mehr hatten sie nicht. Es würde gewiß eine Menge Gerede geben.
»Außerdem werden wir verbreiten, daß Lucas Nachricht von Angelegenheiten erhalten hat, die seine sofortige Anwesenheit in Stonevale erfordern. Ihr beide werdet die Stadt heute nachmittag verlassen und eure Hochzeitsreise auf seinen Gütern verleben, während er sich um seine Ländereien kümmert. Mit ein wenig Glück werdet ihr beide aus der Stadt sein, bevor irgend jemand anfängt, Fragen zu stellen. Wenn ihr in ein paar Wochen zurückkommt, ist eure Eheschließung eine vollendete Tatsache, und der Klatsch wird sich bereits um andere Dinge drehen«, erklärte Cleo.
Victoria hatte in ergebener Zustimmung genickt. Je mehr sie sich an die Vorstellung, mit Lucas Mallory Colebrook verheiratet zu sein, gewöhnte, um so weniger belastete sie der Gedanke. Im Gegenteil, er war durchaus reizvoll. Während sie zusah, wie ihr Gepäck die Eingangshalle füllte, begann sie, die ganze Angelegenheit als großes Abenteuer zu betrachten, aufregender noch als ihre nächtlichen Ausflüge.
Eine Stunde später kam der Schock, als Rathbone verkündete, Lady Jessica Atherton stehe vor der Tür.
»Sie besucht uns höchst selten. Also muß sie von der Hochzeit erfahren haben. Aber wie ist das möglich?« fragte Victoria ihre Tante entsetzt.
Cleo schnaubte wütend. »Ich brauche dir sicherlich nicht zu erklären, daß Gerüchte London ebenso schnell durchqueren wie die Themse. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bis Jessica Atherton und alle anderen es herausgefunden haben würden. Ich hatte jedoch ein
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