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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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Ich konzentrierte mich auf seine strahlend blaue Iris, auf nichts sonst.
    Bring mich zu Moreau. Bring mich zu …
    Plötzlich verschwand alles: der Wald, Sagan, die soleils , die Steinmauern um mich herum. Nichts war mehr zu sehen, so als hätte sich unter mir eine Tür aufgetan und ich wäre direkt in die Finsternis gestürzt.
    Meine Arme bewegten sich krampfartig und unkontrolliert. Ich wusste, dass die soleils ganz in der Nähe sein mussten, doch ich nahm sie nirgends wahr. Ich sank immer tiefer, wie ein Schwimmer, dem mitten auf dem Meer die Kräfte schwinden.
    So sieht Sterben aus. Ich sterbe!
    Was dann geschah, kann ich nicht erklären. Inmitten des Schreckens entwickelte sich etwas Neues. Eine Verwandlung fand in mir statt … Es fühlt sich gut an , dachte ich. So wie ich es noch nie erlebt habe. Fallenlassen. Ich lasse mich fallen.
    Ich war wütend auf mich, obwohl ich mich fallen ließ oder vielleicht gerade deshalb. Denn ich verlor die Kontrolle. Das war es, was mich wütend machte: dass ich keine Kontrolle hatte, sie einfach abgab. Ich war wütend, dass es sich so gut anfühlen konnte.
    Ein flüssiges Verwöhnprogramm umspülte mich. Fühlte es sich so im Mutterleib an?
    Langsam kehrte meine Sehfähigkeit zurück. Ich konnte die Umrisse von Gegenständen sowie die Farben, die sie abgaben, erkennen. Doch anstelle der Ruine des Steinhaus-Hotels sah ich dunkle Gebäude vor mir. An einigen waren Schilder angebracht. MONSANTO, SAIC, RAYTHEON. Der Boden war mit Büschen bewachsen. Dazwischen leuchteten Lampen. Ich entdeckte Parkplätze mit weißen Linien, Straßen mit Gehsteigen und dekorative Laternen, deren Licht sich schimmernd im Wasser eines großen künstlichen Teichs spiegelte.
    Ich kenne diesen Ort.
    Dort war ich mit Sagan schon einmal vorbeigefahren. Es handelte sich um ein Forschungszentrum, eine großzügige Anlage mit Hightech-Firmen, die nur zwei oder drei Kilometer von dem NASA-Gelände entfernt lag.
    Ich spürte, dass jemand in der Nähe war.
    Ich bin nicht allein.
    Genauso hatte ich mich gefühlt, als ich einmal bei meinem Großvater in einer alten Truhe ein Paar lange weiße Handschuhe meiner längst verstorbenen Großmutter gefunden hatte. So wie ich damals die weißen Handschuhe angezogen hatte, so schlüpfte ich jetzt in den Körper des Vampirs, jeden Zentimeter streifte ich mir über.
    Meine Füße berührten den Boden und ich merkte, dass ich rannte. Gemeinsam schossen wir von Busch zu Busch, huschten um die nächste Ecke. Dann gab es kein »Wir« mehr, sondern nur noch ein »Ich.«
    Wehr dich. Wehr dich gegen seine Gedanken. Erinnere dich daran, wer du bist, Emma.
    Jetzt bemerkte ich jemanden, einen Jogger, der auf dem Gehsteig unterwegs war.
    Der Typ sah aus, als wäre er so spät abends allein unterwegs, weil er lange arbeitete. Er hatte sein Hemd ausgezogen und trug eine dieser knappen Sporthosen, die kaum bis auf die Oberschenkel reichten und einen kleinen Schlitz an den Nähten hatten, sodass seine muskulösen Oberschenkel gut zur Geltung kamen. Er hatte einen durchtrainierten Körper und war sich dessen nur allzu bewusst. Nur dass niemand hier war, um ihn zu bewundern. Außer mir natürlich.
    Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Ich war hingerissen. Doch dann dämmerte mir, dass es nicht daran lag, dass er gut aussah, sondern an meinem Appetit … auf ihn. Ich wollte ihn.
    Bitte. Jemand muss kommen.
    Man hätte glauben können, der Jogger liefe in Kuchenteig, so schnell, wie ich den Abstand verringerte. Knapp zwanzig Meter hinter ihm wurde ich langsamer. Ich spürte meine Atmung und die rhythmischen Schritte des Joggers.
    Bitte. Jemand muss kommen.
    Mit der Macht meiner Gedanken versuchte ich zu erzwingen, dass plötzlich haufenweise Menschen auftauchen und mich zum Rückzug zwingen würden. Doch nichts dergleichen geschah. Der Jogger bog an einer Gabelung auf einen Weg ab, der in einem großen Bogen in einen dunklen Waldgürtel führte. Auf der anderen Seite konnte ich Licht aus Wohnungen sehen.
    Lautlos hielt ich mich hinter ihm und verspürte einen nagenden, maßlosen Hunger. Ich fragte mich, warum ich nicht längst über ihn hergefallen war. Es wäre so einfach gewesen.
    Als wir uns einer Brücke näherten, die über einen Bach führte, hörte ich das Plätschern des flachen Wassers. Ich ließ den Jogger die Brücke überqueren. Kurze Zeit später lief er über einen in orangefarbenes Licht getauchten Parkplatz.
    Der Jogger lief auf die Appartementanlage zu und weiter die

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