Verletzlich
ist mir egal, aber es ist die Wahrheit.«
»Egal ist es dir nicht, ganz und gar nicht«, sagte er mit einem Blick in Richtung Sagan. »Das werde ich dir gleich zeigen. Aber zuerst … keine Lügen mehr. Sag mir die Wahrheit. Es geht um dignité . Würde.«
»Ich sage die Wahrheit. Es war ein Versehen.«
Er stand wieder auf, legte einen Finger auf meine Schläfe und fuhr dann an meinem Haaransatz entlang in Richtung Ohr. Ich zog den Kopf weg.
»Wir wissen, dass deine Familie ganz in der Nähe lebt«, sagte Moreau. »Eine Schwester. Die ich nur zu gern einmal … küssen würde.«
Oh wie sehr ich ihn verfluchte.
»Schon in Ordnung«, sagte der Vampir. »Ich verstehe dich sehr gut. Ab und zu machst du dir noch Gedanken, wird dir alles bewusst. Doch dein Geist war nie offener als jetzt. Sie ist in dir, die Offenheit. Ich bin der Meinung, dass man so viel in den letzten Momenten lernen kann, bevor der Tod eintritt. Wenn es keinen Grund mehr gibt, über unnütze Dinge nachzudenken, ist alles auf einmal glasklar.«
Ich blickte zu Sagan hinüber.
»Und? Wirst du es mir sagen?« Moreau ließ nicht locker.
Ich habe keine Geheimnisse , dachte ich. Ich habe nur Hass in mir. Das ist alles, womit du mich zurücklässt, deshalb will ich tot sein. Ich muss sterben. Na los, bringen wir es hinter uns.
»Lasst ihn gehen«, bat ich und nickte in Richtung Sagan. »Lasst ihn gehen und ich erzähle euch alles, was ihr hören wollt. Ich schwöre es.«
Sagan wand sich heftig und versuchte etwas zu sagen.
Moreau lächelte. »Du machst dir Sorgen um deinen kleinen humain? Warum sollte ich etwas abgeben, was ich bereits habe? Jeder Teil seines Lebens hat immer mir gehört. Ich denke, du kennst dich ein wenig mit dem champ aus, oder? Sein ganzes Leben führte auf diesen Punkt zu. Sich mir zu … opfern.«
Noch einmal versuchte ich mich aus dem Griff der drei Vampire zu befreien, die mich bewachten. »Mit mir könnt ihr machen, was ihr wollt! Aber lasst ihn gehen. Lasst ihn in Ruhe!«
Moreau blickte auf. »Ist dir der humain wichtiger als … dein eigenes Leben?«
»Ja«, antwortete ich unter Tränen. »Ja, das ist er.«
»Dann erzähl mir, was ich wissen will. Wie ist es möglich, dass du dich bei Tageslicht draußen aufhalten kannst und menschliche nourriture isst?«
»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich es nicht weiß. Ich weiß es wirklich nicht! Aber ich habe die Vermutung, dass es mit meiner Epilepsie zusammenhängt.«
Wieder einmal versuchte Sagan sich zu äußern. Der gedrungene perdu , Bastien, drückte kräftiger zu, bis Sagan winselnd aufschrie.
Moreau sah zu Lilli hinüber. »Epilepsie?«
» Crises «, übersetzte sie.
»Ah! Das war es also«, sagte Moreau. »Als ich getrunken habe … das helle Licht, das Nichts! Du hast einen Anfall erlitten, und weil unsere champs étaient unis … miteinander verbunden waren, bekam auch ich den Anfall. Stimmt’s?«
»Wahrscheinlich. Ich weiß nachher nie, was während eines Anfalls geschehen ist, aber ich glaube, er hat etwas bewirkt. Meine Umwandlung ist durcheinandergeraten. Ich kann so etwas nicht herbeiführen. Es ist zufällig so geschehen. Das wird dir nicht helfen können.«
»Ach, glaubst du, ich würde Hilfe erwarten?«
»Nicht?«
Wieder kam Moreau dicht an mich heran. »Du bist noch sehr … inexpérimenté . Jung und unerfahren. Einige Dinge wirst du mit der Zeit lernen. Niemand wird dir helfen, Mademoiselle. Niemand … Gutes … wird dich erhören, wenn du auch noch so innig darum bittest. Sobald du das verinnerlicht hast … was soll man dann mit diesem vie , diesem Leben anfangen? Ich sag dir nur so viel. Die Jahre gehen vorbei. Bis nichts mehr bleibt als Neugier.«
»Du bist wahnsinnig.«
Moreau seufzte tief. »Ach, das ist dir erst jetzt aufgegangen? Lass mich dir eine Frage stellen. Wer ist das nicht? Wenn wir geboren werden …« Er streckte den Arm aus und ging langsam im Kreis. »… sind wir wahnsinnig. Dieses … vie … ist ein einziger Albtraum. Wir alle schlafen und können niemals daraus erwachen. Nichts zählt. Eine Nacht folgt auf die andere. Entweder du machst das mit oder du stirbst. Aber das kannst du nicht alleine tun. So ein Tod hat keine Würde. Jemand anders muss dir den Mut dafür geben. Und das habe ich für dich getan.«
Der Vampir drehte sich und sprang über den Konferenztisch hinweg auf die andere Seite, wo Lilli und der gedrungene Bastien Sagan festhielten. Er stieß die weibliche perdu zur Seite, griff Sagan
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