Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Fehlgriff, denkt er. Was für ein Scheißtag. Und in diesem Moment sieht er den Rest seines Lebens klar vor sich. Untersuchungshaft, Vorverurteilung in den Medien, Gerichtsverfahren, Gefängnis. Und sollte er in zwanzig Jahren wieder herauskommen, werden die Leute sich immer noch daran erinnern, was er getan hat.
Das ist doch kein Leben.
Also, wie entscheidest du dich?
Er sieht auf die Waffe, steht auf. »Nein«, sagt er und hebt das Gewehr. Sieht Emilie an.
»Was haben Sie gesagt?«, fragt Trine.
»Ich werde niemanden nach draußen schicken.«
»Das müssen Sie«, protestiert Trine.
Ich muss gar nichts, denkt sich Remi und umklammert den Gewehrschaft noch fester.
»Es spielt keine Rolle«, sagt er leise.
»Warum nicht?«
»Weil jetzt sowieso alles vorbei ist.«
»Nein, Remi, das ist es nicht.«
»Doch«, sagt er und lädt die Waffe durch. »Es ist vorbei. Ich bringe uns alle um.«
81
Würde jemand Trine bitten, die letzten Sekunden noch einmal zu beschreiben, wäre sie dazu nicht in der Lage.
Der Einsatzleiter rudert wild mit den Armen, sie schreit und brüllt etwas in den Hörer. Was genau, weiß sie nicht mehr – aber es zeigt Wirkung. Der Einsatzleiter bleibt stehen und sieht sie an.
Die Leitung ist immer noch intakt. Es fällt kein Schuss.
Das Rauschen am anderen Ende fühlt sich jedoch an wie penetrierender, hochfrequenter Schmerz. Trine blinzelt, versucht zu fokussieren und hat Erfolg. Ihre Sicht wird klarer.
Die Polizeiunterhändlerin sagt etwas, aber es dringt nicht zu ihr durch. Sie blendet alles aus und versucht, nur noch Remi Gulliksen vor sich zu sehen und die vor Schreck starren Menschen, die sich mit ihm im Haus befinden. Remi jetzt unter Druck zu setzen, eine Geisel freizulassen, wäre kontraproduktiv.
»Remi«, sagt sie leise. »Ich glaube, ich weiß, warum Sie wollten, dass ich komme.«
Dieses Mal wartet sie, bis er antwortet. Es ist keine lange Antwort, eher ein Brummen, ein Signal, dass er sich für die Fortsetzung interessiert.
»Sie und ich … Wir haben beide etwas getan, das wir nicht hätten tun sollen. Wir sind beide in eine Ecke gedrängt worden. Und wir wollen diese Probleme irgendwie hinter uns lassen.« Trine macht wieder eine Pause, ihre Stirn glüht. »Ich glaube, ich weiß, wie Sie sich fühlen«, sagt sie und beugt sich vor, stützt die Ellenbogen auf die Knie. Eine Haarsträhne fällt ihr vor die Augen. Sie atmet tief durch.
»Ich habe mir nie von anderen vorschreiben lassen, was ich tun soll. Ich habe gegen das gekämpft, was ich für Unrecht hielt. Aber in den letzten Tagen bin ich klüger geworden, Remi. Das glaube ich jedenfalls. Ich habe verstanden, dass es manchmal nichts nützt, gegen die herrschenden Kräfte anzukämpfen. Man kann nicht knietief im Wasser stehen und hoffen, dass man stehen bleibt, wenn die Riesenwelle auf einen zurollt. Wie stark man auch ist, diese Welle wird einen umreißen.« Trine macht eine Pause. »Verstehen Sie, was ich meine, Remi? Hören Sie, was ich sage?«
Pause.
Die Stille nagt an ihr. Trine hält die Luft an und knetet ihre Finger.
»Ich höre Sie.«
»Ich habe einen Vorschlag«, sagt Trine mit neuer Motivation. »Ich habe noch nie gern telefoniert. Ich habe es immer vorgezogen, den Menschen, mit denen ich rede, in die Augen zu schauen. Ich werde jetzt also Folgendes tun …«, sagt sie, blickt kurz auf und sieht den Protest der Polizisten im Kommandofahrzeug. »Ich steige aus dem Auto aus und stelle mich draußen vor das Haus. Ich will, dass Sie an ein Fenster kommen, und …«
»Warum? Damit ihr mich wegballern könnt?«
»Nein«, sagt Trine mit Nachdruck. »Niemand hier wird auch nur einen Schuss abgeben, das garantiere ich Ihnen.«
Sie steht auf und hebt abwehrend eine Hand in Richtung der Polizisten, die sie aufhalten wollen.
»Wenn Sie jetzt nach draußen schauen«, sagt sie und tritt auf den Asphalt vor dem Auto, »können Sie mich sehen. Ich würde Sie gern auch sehen, Remi.«
Es wird still.
Trine lässt ihren Blick von Fenster zu Fenster schweifen und hält nach einer Bewegung Ausschau. Sie sieht und hört aber nichts.
Plötzlich raschelt eine Gardine.
Leichter Sprühregen hat eingesetzt. Eine weiche, prickelnde Kälte, die ihren glühenden Kopf kühlt und ihr das Denken erleichtert.
»Ich kann Sie noch immer schlecht erkennen.«
Remi antwortet nicht. Doch bald darauf erahnt sie das Gesicht eines Mannes.
Dunkle Augen.
Die Regentropfen legen sich wie winzige Perlen auf ihre Brillengläser, sie
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