Verleumdung
haufenweise von den kleinen Tontafeln, wie sie sie neben der Leiche im Lammefjord gefunden hatte. Sie fuhr mit dem Finger über die Keilschrift auf einer der größten Tafeln.
Irgendwie konnte sie in dem Moment nachvollziehen, warum die Menschen davon fasziniert waren. Dass man Lust bekam, so etwas zu besitzen, anstatt es sich nur im Museum anzusehen, dass man selbst ein Teil der Geschichte werden wollte. Aber sie hatte kein Verständnis dafür, dass man die Ausgrabungsstätten und Museen plünderte, um diese Stücke weiterzuverkaufen. Und an einem solchen Verbrechen hatten Lex und Jonas mitgewirkt. Linnea legte die kleinen Tontafeln wieder zurück. Sie empfand mit einem Mal eine Abscheu gegenüber der Faszination und der Macht, die sie auszuüben schienen.
Plötzlich nahm sie erneut Schritte wahr. Sie drehte sich hastig um. Das Gegenlicht blendete sie, aber sie konnte im Türrahmen eine Frau erkennen.
»Lex?«, fragte sie. »Hast du mich vielleicht erschreckt!«
Doch dann trat die Frau ganz in den Raum, und Linnea begriff sofort, dass es nicht ihre Freundin war. Sie war kleiner und hatte asiatische Züge. Linneas Aufmerksamkeit war allerdings eher auf etwas Glänzendes gerichtet, das die Frau in der Hand hielt.
Linnea versuchte, sie mit ihrem Blick zu fixieren, doch im selben Moment sprang die Frau auf sie zu.
*
Die Autofahrer hupten nervös. Thor machte eine entschuldigende Handbewegung und drängte mit seinem Honda weiter auf die Gegenfahrbahn. Es gelang ihm, sich zwischen einem Lastwagen und einem uralten Toyota wieder einzufädeln und die Kreuzung am Christian Møllers Plads zu überqueren. Seine riskante Aktion wurde von einem infernalischen Hupkonzert begleitet. Kurze Zeit später hatte er auch die nächste Kreuzung hinter sich gebracht und war in den Kløvermarksvej eingebogen, wo er endlich wieder freie Fahrt hatte und sich etwas entspannen konnte.
»Verdammt noch mal!«
Die Mappe mit den Papieren war ihm vom Schoß gerutscht, und er wollte sie gerade aufheben, als ihm plötzlich auffiel, dass er die Torvegade bereits so weit entlanggefahren war, dass er sich fast auf der vierspurigen Kreuzung Richtung Amagerbrogade befand. Er schlingerte ein wenig, bekam dann aber gleichzeitig das Lenkrad und die Mappe in den Griff, die sich seitlich hinter der Kupplung verklemmt hatte. Er war verantwortungslos gefahren, aber jetzt, wo es fast nur noch geradeaus ging, hielt sich das Risiko zum Glück in Grenzen. Auf dem Beifahrersitz hatte er seinen aufgeklappten Laptop stehen und das Mailprogramm geöffnet, und zwischen seinen Beinen lagen die Auszüge des Verhörprotokolls. Er hatte versucht, während der Fahrt in beidem zu lesen, was ihm auch tatsächlich gelungen war, bis der Verkehr chaotischer geworden war. Jetzt versuchte er erneut, Linnea anzurufen, kam jedoch nicht durch.
»Jetzt nimm schon ab!«, fluchte er.
Als sie ihn aus Virum angerufen hatte, hatte sie gesagt, dass sie gerade auf dem Weg zur Refshaleinsel sei. Dort hoffte sie Alexandra Neergaard zu finden, in den Lagerräumen, die sie und ihr Mann gemietet hatten. Jetzt war Thor ebenfalls auf dem Weg dorthin. Er versuchte die Schilder im Auge zu behalten, damit er nicht aus Versehen nach Margretheholmen oder zum Amagerværket abbog. Seiner Einschätzung nach war es schneller, den etwas längeren Weg um Christianshavn und Holmen zu nehmen, wo weniger Verkehr herrschte und die Straßen breiter waren. Linneas Zweifel hatten ihn dazu veranlasst, seine Notizen aus dem Verhör noch einmal durchzugehen, und ihre Mail hatte seinen Verdacht nur bestärkt. Daran war ein Foto von der Tontafel angehängt, die am Abend zuvor aus ihrem Büro gestohlen worden war. Einer der Gegenstände, mit denen Neergaard und seine Frau offenbar gehandelt hatten. Er wurde den Verdacht nicht los, dass es Alexandra Neergaard selbst gewesen war, die erst in Linneas Privatwohnung und dann an ihrem Arbeitsplatz eingebrochen war, um herauszufinden, was die Polizei über ihre Geschäfte wusste. Und natürlich, um mögliche Spuren zu beseitigen.
Allmählich dämmerte ihm, dass sie eine außergewöhnlich rücksichtslose Frau sein musste. Linnea hatte sich auf den Weg gemacht, um sie mit ihrem Verdacht zu konfrontieren. Thor fürchtete jedoch, dass sie immer noch davon ausging, Alexandra Neergaard sei eine gute Freundin. Sie würde nicht auf die Idee kommen, dass sie ihr tatsächlich gefährlich werden konnte.
Und damit begab sie sich direkt in die Höhle des Löwen.
54
D as kommt
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