Verlieb dich nie in einen Vargas
vorgebetet hatte. Es hörte sich nach einem guten Ratschlag an, und ich bin sicher, bei vielen Menschen funktionierte er. Aber was war, wenn alle Erinnerungen, die man an eine Person hatte, jemand anderem gehörten?
Gott, meine Schwestern hatten so viele. Ich hatte sie mir angehört, sie anprobiert und ausgeborgt, als wären es meine eigenen. Ein Backgammonspiel bei Kerzenlicht, als eines Nachts der Strom ausfiel. Das Zelten im Rocky-Mountain-Nationalpark, jene Wanderung die Twin Sisters hinauf und die Sache mit den Dickhornschafen. Wie sich alle ins Auto gequetscht hatten, um das Jurassic Park -Doublefeature im Autokino von Silver Gorge zu gucken. Sogar die Geschichten darüber, wie meine Schwestern ihre Namen bekommen hatten, waren magisch: Lourdes nach Moms Großmutter, die ihr Leben im Kampf für mehr Frauenrechte in Argentinien riskiert hatte. Mariposa, Schmetterling, nach den leuchtend blauen und orangefarbenen Schmetterlingen, die eine Woche vor der Geburt meiner Schwester den Garten meiner Eltern bevölkert hatten. Araceli, Himmelsaltar, die Mom Wehen in einem Flugzeug beschert hatte und nach einer Notlandung in einem Krankenwagen auf dem Flugfeld geboren wurde. Ihre Namen hatten eine persönliche Erinnerungsgeschichte, völlig anders als der meine, der, wie meine Schwestern mir gerne unter die Nase rieben, hastig ausgesucht worden war und von der ersten Sache herrührte, die meiner Mutter nach der Geburt ins Auge gefallen war: der von einer Kette baumelnde Anhänger der Ärztin.
Der heilige Judas, Schutzpatron in schweren Nöten und verzweifelten Situationen.
Meine Schwestern bekamen die guten Sachen zuerst. Alles, was mir von ihren kostbaren Momenten blieb, waren Eindrücke, Schatten des Ursprünglichen, zusammengeschustert aus den verblassten Erinnerungsfetzen, in denen sie schwelgten; Bruchstücke und Splitter, die sich beim Erzählen jedes Mal neu zusammensetzten.
Wie so viele Dinge in meinem Leben waren die besten Erinnerungen an meinen Vater ein Vermächtnis, das an mich weitergereicht wurde wie ihre Klamotten, ihre Spielsachen oder der Vargas-Schwur.
Bis ich draußen im Schuppen unter der blauen Schutzabdeckung die Harley entdeckt hatte.
Das Motorradprojekt war eine Sache zwischen mir und Papi, eine wahre Geschichte, die nur er und ich teilten. Jedes Mal, wenn wir über die Maschine sprachen oder Emilio dabei zusahen, wie er Teile ab- und anschraubte, erzählte Papi mir von seinem Leben in Argentinien – wilde, unglaubliche Geschichten, aus den Teilen seines Kopfes zutage gefördert, die unter einem Erdrutsch aus Ehe und Elternschaft und beruflichem Werdegang begraben worden waren. Geschichten, die meine Schwestern und meine Mutter noch nie gehört hatten. Jede war wie ein Juwel, das ich in einer Schachtel unter dem Bett aufbewahren konnte, etwas, das ich hervorholen und ins Licht halten konnte, wann immer ich Sehnsucht nach seiner Besonderheit verspürte.
War das der Grund, warum ich so begierig darauf gewesen war, mit dem Motorrad zu helfen? Damit ein Stück von Papi ganz mir gehörte?
Arbeitete Papi deshalb weiter daran und las das Handbuch und trug die Lederjacke? Für mich?
Ein Tag geht in den anderen über, und ehe man sich’s versieht …
»Papi?«
Er zuckte beim Klang meiner Stimme zusammen, die Augen verhangen vom Anblinzeln des Handbuchs. Er brauchte einen Moment, um das Geräusch zu verarbeiten. Ich konnte beinah die Synapsen hinter seinen Augen feuern sehen, die langsame Wanderung der Elektrizität an den Nervenbahnen entlang zum Ablagesystem seines Kortex, wo mein Bild und mein Name und alle benötigten Informationen abgeholt wurden.
»Ich muss dich etwas fragen«, sagte ich. »Es ist was Wichtiges.«
Er klappte das Buch zu, faltete seine Hände über dem Deckel und trommelte mit den Fingern darauf. »Bist du sicher, dass du nicht lieber mit deiner Mutter reden möchtest? Sie versteht sich bestimmt besser auf solche Dinge. Oder deine Schwester. Ich kann sie holen, falls …«
»Nein! Es geht nicht um … Es ist keine Frauensache oder so.«
Er stieß einen erleichterten Seufzer aus und wischte sich mit der Hand über die Stirn. »In dem Fall ist dein Papi dir gern zu Diensten. Aber danach gucken wir Vier für ein Ave Maria . Unser Freund Tuco aus Zwei glorreiche Halunken spielt darin mit.«
Papi räusperte sich für die unvermeidliche Tuco-Imitation.
»Es gibt zwei Arten von Menschen, Juju. Die einen gucken mitten in der Nacht Western, und die anderen werden von ihrem
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