Verlieb dich nie nach Mitternacht
versteckte sich jedoch eine Erinnerung, die sie nicht fassen konnte. Noch nicht, so hoffte sie.
Abwartend lehnte sie sich zurück, als der Ober den Wein brachte. Richard kostete ihn mit der Miene und dem Habitus eines Kenners. Geräuschvoll schmeckte er dem Tropfen nach.
»Sie sind zufrieden?, fragte der Ober.
Richard nickte. »Ein exzellenter Tropfen.«
Sie warteten, bis die Gläser gefüllt waren und der Ober sich entfernt hatte, bevor sie ihr Gespräch wieder aufnahmen.
»A votre santé!« Mit einem amüsierten Lächeln um die schmalen Lippen prostete Pindall ihr zu.
»Zum Wohl.« Trocken und doch voll im Geschmack lief der Wein Maribel die Kehle hinunter. Ein Genuss.
»Ich wusste, dass er zu Ihnen passt.«
Maribel suchte nach Zeichen der Selbstzufriedenheit bei ihm, doch Richard wirkte gelassen und sehr wohlwollend. Der Mann schien keine Fehler zu haben. Vielleicht war er Maribel gerade deshalb auch ein wenig unheimlich.
»Boris hingegen strotzte vor Fehlern.«
Erst, als seine Augenbrauen fragend nach oben schossen, bemerkte sie, dass sie laut gesprochen hatte.
»Boris ist Ihr Freund?«
»Ja.«
»Sie reden nicht gern über ihn?«
»Doch.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich meine, das ist eine sehr komplizierte Geschichte.«
Dankbar über die Ablenkung lächelte Maribel dem Ober zu, als er das Essen brachte. Appetitlich angerichtet, ließ bereits der Anblick des Zanderfilets Maribel das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Ich kannte einen Boris. Er war einer meiner Geschäftspartner. Leider ist er mit unbekanntem Ziel verschwunden.« Pindall sagte es völlig leidenschaftslos. Von außen betrachtet, schien sein Interesse allein der Seezunge zu gelten, die sich in einer Zitronenrahmsoße vor ihm auf dem Teller präsentierte. Doch Maribel spürte, wie sich die Härchen auf ihrem Arm warnend aufstellten.
»Was für ein Zufall.«
Er kaute ruhig weiter. Eine Weile aßen sie, ohne miteinander zu reden.
»Vielleicht haben Sie sogar in der Zeitung von dem Fall gelesen? Boris Wendzinski. Ein Internethändler. Die Polizei wirft ihm vor, Hehlerware vertrieben zu haben.« Pindall hob den Blick und sah ihr direkt ins Gesicht. Fragend. Interessiert.
War ihr Zusammentreffen in diesem Restaurant doch nicht so zufällig, wie sie geglaubt hatte? Maribel fühlte, wie kleine Schweißbäche ihr aus der Kniekehle das Bein hinabliefen.
»Ehrlich gesagt, bin ich heute noch gar nicht zum Zeitunglesen gekommen«, antwortete sie. »Bestimmt kennen Sie das: Sie stehen morgens auf, denken, es wird ein ruhiger Tag, und dann schlägt die Hektik über einem zusammen.« Sie lachte gekünstelt und griff nach ihrer Serviette, um sich den Mund abzutupfen. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment.« Maribel griff nach ihrer Handtasche. Als sie dem diskreten Hinweis folgte, der ihr den Weg zu den Waschräumen zeigte, spürte sie, wie sich Pindalls Blick in ihren Rücken bohrte.
Pindall – ein Geschäftspartner von Boris? War er am Ende sogar auf der Suche nach ihm?
Der Weg zu den Waschräumen führte an der Bar vorbei. Obwohl ihr das Herz vor Nervosität bis zum Halse schlug, konnte Maribel nicht anders, als stehen zu bleiben. Suchend ließ sie ihre Blicke über die Gäste schweifen. Hier hatten sie sich kennengelernt.
Boris, wo bist du?
Niemand der Anwesenden sah ihm auch nur im Entferntesten ähnlich. Enttäuscht wandte sie sich ab. Zumindest wusste sie jetzt, weshalb sie wirklich diesen Ort aufgesucht hatte.
Sie wollte sicher sein, dass Boris nicht hier war.
*
Die Einrichtung des Waschraumes entsprach dem vornehmen, edlen Stil des gesamten Restaurants. Goldfarbene Armaturen zu hellen Keramikwaschbecken und Fliesen. Maribel drehte den Wasserhahn auf, wusch sich die Hände, drehte den Hahn wieder zu und trocknete sich die Hände unter dem Heißluftgebläse. Sie verrichtete die Handgriffe mechanisch. Doch als sie in den Spiegel blickte, erschrak sie.
Eine schlanke Frau starrte ihr flehend entgegen.
Das konnte doch unmöglich sie sein.
Sah man so aus, wenn man verzweifelt war?
Es war ein Fehler, hier zu sein.
Es war ein Fehler, überteuertes Essen zu bestellen.
Und erst recht war es falsch, zusammen mit Pindall an einem Tisch zu sitzen.
Maribel wurde von Panik ergriffen.
Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer erschien es ihr, dass auch hinter Pindalls Termin im Ehevermittlungsinstitut weit mehr als der Wunsch nach einer passenden Lebensgefährtin steckte.
Wollte er sie benutzen, um an Boris
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