Verliebt in einen Fremden
streichen. Nie wieder würde er sie kränken und lächerlich machen. Wieso war sie deshalb nicht erleichtert? Warum in aller Welt frustrierte sie das nur noch mehr?
»Wann fahren Sie ins Krankenhaus, Camille?«
Dearlys Stimme riss Camille aus ihren brütenden Ãberlegungen. »Was? Ach so. In einer knappen halben Stunde, schätze ich«, antwortete sie abwesend.
»Dann sind Sie gegen zwei Uhr da, nicht?«, bohrte Dearly.
»Hmm ⦠schätze mal, ja. Wieso?«
»Ach, nichts Besonderes. Ich müsste heute Nachmittag
ein paar Einkäufe machen und wollte Sie nicht allein lassen, falls Sie mich brauchen.«
Zu abgelenkt von ihren eigenen Befindlichkeiten, ging Camille über das seltsame Verhalten der Haushälterin hinweg. Sie hatte genug eigene Probleme und momentan nicht das Bedürfnis, auf Dearlys Verschrobenheiten näher einzugehen.
Sie lief über die Terrasse zum Witwendomizil und zog sich dort um. Die Designerjeans war frisch gereinigt, knalleng und umschmeichelte ihre langen Beine. Sie schlüpfte in eine türkisseidene Bluse mit langen, gerafften Ãrmeln und schob einen schmalen, goldfarbenen Gürtel durch die Schlaufen der Hose. Rasch bürstete sie sich die Haare. Die Luftfeuchtigkeit war zum Glück nicht so hoch wie sonst, daher wellten sie sich weich um ihre Schultern, umkringelten vorwitzig ihr Gesicht. Fieberhaft versuchte sie sich einzureden, dass der gemeinsame Krankenhausbesuch mit Zack völlig nichtssagend sei, trotzdem legte sie groÃen Wert auf ihr Make-up und besprühte sich sogar mit einem holzig-fruchtigen Duft, passend zu der spätherbstlichen Stimmung. SchlieÃlich warf sie sich einen weichen, braunen Lederblazer um die Schultern und war fertig.
Zack wartete bereits neben seinem dunkelblauen Lincoln, als sie die Verandastufen hinunterkam. Er ging zur Beifahrerseite und hielt ihr die Tür auf. Schweigend fuhren sie zum Krankenhaus. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie aus dem Fenster schaute, gleichwohl war sie sich seiner Nähe intensiv bewusst. Er trug ein beigefarbenes Freizeitsakko über einem Sporthemd mit offenem Kragen und dazu Jeans, genau wie Camille. Der schlanke europäische Schnitt betonte seine schmalen Hüften und die langen, trainierten Beine. Heute hatte er auf den Cowboyhut verzichtet, und seine Haare fielen ihm in leichten Wellen in
die aristokratisch hohe Stirn. Sein Profil war nahezu vollkommen, sinnierte Camille, während sie ihn heimlich beobachtete. Als sie unwillkürlich aufseufzte, drehte er sich spontan zu ihr um und ertappte sie bei ihrer kritischen Inspektion. Bevor sie hastig wegsehen konnte, gewahrte sie noch das amüsierte Funkeln in seinen azurblauen Augen.
»Hast du Rick OâMalley in letzter Zeit noch mal gesehen?« Zacks Frage klang beiläufig, traf Camille aber völlig unvorbereitet.
»Ich bin heute Abend mit ihm verabredet.« Camille hatte Rick nach dem Footballspiel kaum noch zu Gesicht bekommen. Seine Tätigkeit in Bridal Wreath war beendet, und wenn noch etwas nachzubessern war, erledigte das sein Vater. Rick hatte sie Anfang der Woche angerufen und sich besorgt nach Rayburns Gesundheitszustand erkundigt. Im Verlauf des Gesprächs hatte er sie gefragt, ob sie nicht Lust hätte, diesen Samstag mit ihm ins Kino zu gehen. Sie hatte zugesagt, weil sie ihn wirklich nett fand, nicht zuletzt aber auch, weil die Spannung in Bridal Wreath unerträglich geworden war und sie ein bisschen Zerstreuung dringend nötig hatte.
»Ich hab Rick immer gern gemocht«, fuhr Zack fort. »Er ist ein netter Typ. Verschwiegen.« Letzteres sagte er mit Nachdruck und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Dann setzte er auftrumpfend hinzu: »Es steht dir natürlich frei, ihm auf den Kopf zuzusagen, dass er ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hat. Wäre nicht uninteressant, wie er sich dazu äuÃert.« Camilles Kopf schnellte herum, sie sah ihn entgeistert an. »Schau mich nicht so an. Das weià hier jeder. Die Sache läuft schon seit Jahren.« Er fuhr in eine Parkbucht, bremste abrupt und sprang aus dem Wagen, bevor Camille auf diese niederschmetternde und unglaubliche Neuigkeit reagieren konnte.
Sie fuhren mit dem Aufzug in den vierten Stock. Sobald sie wieder hinaustraten und den Gang durchquerten, bemerkte Camille die spannungsgeladene Atmosphäre, die sie umfing. Als sie mit Zack das Schwesternzimmer passierte, mussten
Weitere Kostenlose Bücher