Verlockendes Dunkel
Ländereien vertraut, schaute sich das Terrain an und begutachtete die Landschaft. Er sah die Parklandschaft jedoch nicht als das Meisterwerk von gepflegten Parterreanlagen und künstlicher Wildnis, das sie war, sondern als ein Mittel, um sich, je nachdem, wie die Umstände es verlangten, zu verbergen, zu entkommen oder zu kämpfen. Diese Fertigkeiten waren die ersten, die er im Exil gelernt hatte, und sie hatten ihm im Lauf der Jahre mehr als einmal den Hals gerettet. Inzwischen waren sie ihm zur zweiten Natur geworden.
Es hätte eigentlich einfach sein müssen. Da er in der Nähe aufgewachsen war, hatte er unzählige Stunden damit verbracht, auf diesem Gelände herumzustreifen, und kannte Dun Eyre wie seinen eigenen Handrücken. Als er jedoch zu einer hohen Hecke kam, die dort eigentlich nichts zu suchen hatte, musste er zugeben, dass schließlich auch sein Handrücken nicht mehr derselbe war, seit er im letzten November unter einem Stiefelabsatz zerquetscht worden war.
Brendan krümmte die Finger zu einer schmerzenden Faust. Das Knirschen schlecht verheilter Knochen war ein Andenken an jene gefährlichen Zeiten, in denen es so ausgesehen hatte, als hätten seine Verbrechen ihn schließlich doch noch eingeholt.
Damals waren die Götter ihm gut gesonnen gewesen, aber ob er noch einmal so viel Glück haben würde, musste sich erst noch zeigen.
In der Hoffnung, die Dornenhecke umgehen zu können und sich dem Haus von Westen her zu nähern, trat er den Rückweg an. Die Kälte drang durch seinen Rock, und die Knochen in seiner Hand pochten. Auf ein solches Wetter konnte er verzichten. Er hatte den kalten, feuchten Frühling Irlands schon zu lange nicht mehr erlebt und war heute mehr an Sonne, strahlend blauen Himmel und trockenen Wüstenwind gewöhnt.
Je länger er in der Nähe Belfoyles und des Hauses blieb, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, desto mehr Erinnerungen tauchten auf wie wieder ausgegrabene Leichen. Jeder vertraute Orientierungspunkt und jedes wohlbekannte Gesicht brachten jene furchtbaren letzten Tage in lebhaften Albträumen zurück. Vaters vorwurfsvoller Blick, der ihn mit Scham und Schuldgefühlen erfüllte. Vaters Tod, der sich in seiner ganzen blutigen Gewaltsamkeit immer wieder vor ihm abspielte, bis es selbst im wachen Zustand kein Entkommen mehr vor diesen Bildern gab.
War Vater schnell und schmerzlos gestorben, oder hatten die Amhas - draoi mit blutigem Gemetzel Vergeltung geübt? Hatte Vater am Ende gewusst, dass Brendan ihn verraten hatte, oder war er in den Tod gegangen, ohne etwas von der Illoyalität seines geliebten Sohnes zu ahnen?
Brendan blinzelte und zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Er konnte seine Sorgen für den Rest seines armseligen Lebens in Alkohol ertränken, wenn er wollte. Doch jetzt musste er ruhig und zuversichtlich sein und sich auf seine Ziele konzentrieren.
Wie den Sh’vad Tual zurückzuholen, um ihn zur sicheren Aufbewahrung zu Scathach zu bringen.
Wo er um Gnade winseln würde wie noch nie zuvor, um seine elende Existenz zu retten.
So einfach war das.
In etwas gebückter Haltung gegen die Kälte hielt er den Blick auf den Weg vor sich gerichtet und lauschte angestrengt auf jedes Anzeichen für andere Spaziergänger. In den tiefen Schatten fern des Hauses hatte er den fith-fath abgelegt. Er war völlig aus der Übung, und die Konzentration, die es erforderte, den Tarnungszauber aufrechtzuerhalten, ließ ihm wenig Energie für alles andere. Es war besser, seine magischen Kräfte sparsam zu verwenden.
Die Hecke machte einen Bogen, und der Pfad endete an ein paar flachen Steinstufen. Darunter erstreckte sich das Haus mit seinen verschiedenen Flügeln, die von dem viereckigen zentralen Bau ausgingen. Der Ball war beendet, und Gäste brachen in einer langen Reihe von Kutschen auf oder zogen sich für die Nacht in ihre Zimmer zurück. Einige wenige Lichter glimmten hinter Fenstern, aber das Lichtermeer aus Kerzen und Fackeln, das die Eingänge erhellt hatte, war gelöscht worden, und tiefe Dunkelheit senkte sich nun über das Haus.
Brendan zählte die Fenster im zweiten Stock. Das siebte von rechts gehörte zu Elisabeths Schlafzimmer, in dem hinter den geschlossenen Vorhängen noch Licht zu sehen war. Wahrscheinlich entkleidete sie sich gerade, löste langsam die Strumpfbänder und rollte die Strümpfe an ihren langen Beinen herab, befreite ihre üppigen Rundungen von Korsett und Unterröcken und schlüpfte in das dünne Musselinnachthemd, das
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