Verlockung der Nacht
die Augen, und seine Aura breitete sich aus, erfüllte den Raum mit unsichtbaren Strömen. Kurze Zeit später deutete er ohne die Augen zu öffnen auf zwei Türen in der hinteren Ecke.
»Sie ist in einer von diesen beiden Wohnungen.«
»Und das weißt du, weil jetzt die MACHT mit dir ist, oder was?«, fragte ich, bemüht, nicht zu ungläubig zu klingen.
Er öffnete die Augen und tippte sich an die Schläfe. »Ich horche. Du blendest vermutlich die Gedanken anderer Personen aus, ich hingegen konzentriere mich auf sie. Hinter einer dieser Türen befindet sich eine völlig traumatisierte Frau, und ich vermute, das liegt daran, dass Kramer gerade gegangen ist.«
Das hatte ich nun von meinen Zweifeln. Bones lag richtig mit seiner Vermutung, dass ich mich gegen das Gedankengewirr aus den Wohnungen abgeschirmt und damit ein wichtiges Mittel zum Auffinden unserer Zielperson vernachlässigt hatte.
»Wie gut, dass du da bist. So was Praktisches wäre mir nie eingefallen«, bemerkte ich sarkastisch.
Er stoppte mich, als ich gerade an die Tür von Apartment B klopfen wollte.
»Nimm’s dir nicht übel. Ich hab’s genauso gemacht, als ich die Fähigkeit entwickelt habe, aber ich habe sie jetzt schon ziemlich lange und kann anders damit umgehen. Du bist noch nicht daran gewöhnt, aber das kommt noch, und dann wirst du sie ganz selbstverständlich einsetzen.«
Vielleicht, aber es war ja nicht mal meine eigene Fähigkeit. Hätte ich aufgehört, Bones’ Blut zu trinken, wäre es mit dem Gedankenlesen genauso schnell vorbei gewesen wie mit jeder anderen meiner geborgten Besonderheiten. Kurz packte mich eine düstere Stimmung. In vielerlei Hinsicht war ich eine Hochstaplerin. Meine Körperkraft und die besonderen Fähigkeiten waren lediglich das Produkt seltsamer Ernährungsgewohnheiten. Hätte ich mit dem Blut, das ich trank, nicht auch die Kräfte des Betreffenden in mich aufnehmen können, wäre ich auch nicht furchterregender gewesen als meine Mutter. Wo steckt nun die echte Gevatterin Tod?
Schließlich schob ich die trüben Gedanken beiseite und klopfte an die Tür. Meine persönliche Identitätskrise konnte ich mir später leisten, wenn nicht gerade das Leben eines anderen auf dem Spiel stand. Falls irgendjemand hier Mitleid verdient hatte, dann war das die Frau, die wir von hier wegholen wollten, und dem leisen Schluchzen hinter der Tür nach zu urteilen, würde ich sie wohl gleich kennenlernen.
»Wer ist da?«, rief eine angespannte Stimme. Bloß kein Besuch jetzt, hörte ich gleich darauf die Gedanken der Frau, die sogar meine mentalen Barrieren durchdrangen.
»Wir sind gerade eingezogen«, sagte ich, bemüht freundlich zu klingen. »Ich habe da eine streunende Katze gefunden und dachte, Sie wissen vielleicht, wem sie gehört.«
Angesichts der Tatsache, dass ich mit einer Katzenbox hier stand, kam mir das glaubwürdiger vor als meine anderen Ideen. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, Sicherheitskette eingehängt. Auf der Hut war sie jedenfalls, aber das Wesen, das hinter ihr her war, konnte man mit Schloss und Riegel nicht aussperren. Ich erhaschte einen Blick auf ein von zerrauftem Blondhaar umgebenes, tränenüberströmtes Gesicht, bevor ich die Katzenbox hochhielt, damit die Frau meinen Kater sehen konnte.
»Augenblick bitte«, murmelte sie. Die Tür wurde geschlossen, und man hörte, wie sie die Sicherheitskette löste. Dann öffnete die Frau die Tür ganz, um Helsing in Augenschein nehmen zu können.
»Die habe ich hier noch nie gesehen«, begann sie.
Bones’ Augen leuchteten smaragdgrün auf, grell wie eine Verkehrsampel. Kaum, dass sie nach Luft schnappen konnte, war die Frau auch schon in ihren Tiefen gefangen und trat stumm zurück, als Bones sie anwies, uns einzulassen.
Ich schloss die Tür hinter uns und stellte mit Entsetzen fest, dass die Wohnung völlig verwüstet war. Die Couch war umgestürzt, Lampen und Tische zerschlagen, die Küchenschränke halb von der Wand gerissen und ihr Inhalt in Scherben auf dem Boden verteilt. Entweder war das Kramers Werk, oder die Gute hatte schlimme Wutausbrüche.
»Wer hat das getan?«, fragte Bones, der sie noch immer mit seinem Vampirblick fixierte.
Schmerz breitete sich auf den Zügen der Frau aus. »Ich weiß nicht, wie er heißt. Ich kann ihn nicht einmal sehen, wenn er es nicht will.«
Das reichte mir als Bestätigung, aber Bones stellte noch eine Frage. »Wie lange kommt er schon zu dir?«
»Über drei Wochen«, flüsterte sie.
Ich wechselte
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