Verlockung der Nacht
Hoffentlich würde meine Mutter es Ian bald nachtun und ihren Speiseplan etwas abwechslungsreicher gestalten. Halb fragte ich mich, ob er deshalb darauf bestand, so oft mit ihr auszugehen, obwohl vielleicht nur eine Mischung aus Langeweile und Lagerkoller dahintersteckte.
Als ich aus der Dusche kam und mich mit ein paar schnellen und effizienten Handbewegungen abgetrocknet hatte, schnappte ich mir mein Handy vom Waschtresen und las die SMS . Zuerst dachte ich, es wäre nur dummes Zeug. Buchstaben, Symbole und Zahlen waren ohne Punkt und Komma aneinandergehängt. Einiges wiederholte sich, anderes nicht. Vielleicht war Denises Handy in ihrer Handtasche herumgepurzelt, sodass zufällig meine Nummer gedrückt worden war; ich hatte auch schon Leute versehentlich angerufen. Aber die Nachricht kam nicht von Denises Handy. Sie kam von Elisabeth. Ich besah mir die SMS genauer.
6 THST 5360#( SC 5360 WEST ^ THSC 5360 WEST 6 THSTSC
Noch zweimal musste ich die Nachricht lesen, bevor mir das Muster klar wurde. »Dreiundfünfzig sechzig West Sixth Street, Sioux City«, sagte ich, während die Erregung mir durch die Adern schoss wie ein Blitzschlag. »Dreiundfünfzig sechzig West Sixth Street, Sioux City. Heilige Scheiße, sie hat es geschafft! Elisabeth hat sie gefunden!«
Aber warum war ihre SMS so ein Kauderwelsch? Als Elisabeth vor einigen Wochen Francines Adresse durchgegeben hatte, war die Nachricht klar und deutlich gewesen. Diese hier wirkte, als hätte sie beim Schreiben jongliert. Was konnte sie dazu gebracht haben, eine so konfuse SMS zu schicken, dass ich sie womöglich gar nicht verstand?
Als Bones ins Schlafzimmer kam, war ich darauf gekommen und begegnete seinem Blick mit einer Mischung aus Hoffnungsfreude und Bitterkeit.
»Elisabeth hat sie gefunden«, wiederholte ich. »Und wie es aussieht, musste sie Kramer abwehren, als sie die Adresse eingegeben hat, also weiß Kramer, dass sie die Frau ausfindig gemacht hat, und auch, dass wir unterwegs sind.«
Selbst auf dem direkten Luftweg würden wir gute zwanzig Minuten bis Prospect Hill in Sioux City brauchen, wo die angegebene Adresse lag. Bones hätte schneller fliegen können, ich aber nicht, und wenn er schon seine ganze Kraft verbrauchte, um mich zu tragen, blieb ihm später weniger für eine schnelle Flucht übrig. Wir mussten schon genug Energie aufbringen, um so hoch zu fliegen, dass die Pendler, die jetzt in der abendlichen Hauptverkehrszeit unterwegs waren, uns nicht erspähten. Noch eine ganze Stunde lang würde es nicht völlig dunkel sein, doch obwohl wir Gefahr liefen, entdeckt zu werden, kam ein Aufschub nicht in Frage.
Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als wir endlich das weiße Denkmal erreichten, das uns anzeigte, dass wir in Prospect Hill angekommen waren. Wir hatten uns vorher auf MapQuest schlau gemacht, sodass wir ungefähr wussten, wo wir landen mussten, aber leider hatten die Leute keine Hausnummern auf ihren Dächern stehen. Bones flog mit mir in die Gegend, in der er die Adresse vermutete, schoss dann geradewegs nach unten und landete zwischen einigen hohen Hecken. Wir kamen so hart auf, dass der Boden unter unseren Füßen bebte und wir bis zu den Knöcheln ins Erdreich einsanken. Ich ging sofort in die Knie, um die Wucht ein wenig abzufangen. Trotzdem tat es verdammt weh, aber die Gegend grenzte an die Innenstadt, wo im Augenblick jede Menge Menschen bummelten, Essen gingen oder anderweitig unterwegs waren, sodass wir es nicht riskieren konnten, bei einer geschmeidigeren Landung gesehen zu werden. Da heutzutage fast jedes Handy über eine Kamerafunktion verfügte, würden wir in den Nachrichten und im Internet zu sehen sein, bevor man »Gefährdung der übernatürlichen Sicherheit« sagen konnte. Dann bekämen wir nicht nur mächtigen Ärger mit den vampirischen Gesetzeshütern, sondern auch mit Madigan, weil der dank seiner Gesichtserkennungssoftware sofort wissen würde, wo wir waren.
»Alles okay, Süße?«, erkundigte sich Bones, der sich von seinen Blessuren schneller erholt hatte als ich, nachdem er aus fünfzehnhundert Metern Höhe herabgestürzt war wie eine Bowlingkugel.
»Ja«, keuchte ich und fuhr zusammen, als ich mich unter Schmerzen aufrappelte. Meine Beine hatte ich zwar geschont, indem ich in die Knie gegangen war, aber irgendwie musste ich im falschen Winkel aufgekommen sein, denn in meiner Wirbelsäule knackte es ziemlich, als ich wieder aufstand. Ein starkes Prickeln, und der Schmerz war verschwunden. Was
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