Verlockung der Nacht
unsere Selbstheilungskräfte betraf, war es richtig klasse, ein Vampir zu sein.
Bones zog etwas Salbei aus den Taschen und zündete ihn an. Ich tat es ihm nach, bemüht, keine angesengten Blätter zu Boden fallen zu lassen. Überall lag trockenes Laub herum, und wenn wir hier Feuer legten, war uns die Aufmerksamkeit der Massen gewiss.
Wir verließen den Schutz der Hecken und schlenderten auf die nächste Kreuzung zu wie ein ganz normales Pärchen. Aus dem Gemurmel, das ich aufschnappte, konnte ich entnehmen, dass die Passanten in der Nähe der Stelle, an der wir gelandet waren, sich fragten, was das gerade für ein Lärm gewesen war und warum die Erde gebebt hatte, aber zum Glück hatte niemand zwei Gestalten aus dem Himmel herabstürzen sehen. Wir waren aber auch so schnell gewesen, dass wir lediglich als Schemen zu erkennen gewesen wären, falls jemand direkt in unsere Richtung geschaut hätte.
»Wir sind in der Cook Street«, sagte Bones leise und wies mit einem Nicken auf das Straßenschild vor uns. »Die Sixth müsste auch bald kommen …«
Bones verstummte; große Anspannung ging plötzlich von seiner Aura aus. Ich folgte seinem Blick, und die Angst kroch mir in den Nacken.
Ein mit einer Tunika bekleideter Mann schwebte mitten über der Straße, sein weißes Haar reglos trotz des leichten Windes. Die Autos fuhren geradewegs durch ihn hindurch. Ihre Insassen hatten keine Ahnung, dass sie gerade in Kontakt mit einem der schlimmsten Massenmörder der Geschichte gekommen waren. Und obwohl wir zu weit von ihm entfernt waren, als dass ich seine Augen hätte sehen können, wusste ich, dass der Inquisitor uns direkt anstarrte.
Unser Kommen war also doch nicht gänzlich unbemerkt geblieben.
»Bones«, sagte ich leise. »Ich lenke ihn ab. Du holst die Frau und kommst wieder zurück.«
Bones’ Lippen bewegten sich kaum, aber ich konnte seine geflüsterte Antwort dennoch hören. »Ich lasse dich nicht allein.«
Binnen Sekunden würde Kramer angreifen, er kam bereits auf uns zu, und gewiss nicht, um uns die Hand zu schütteln und »Hallo Leute!« zu sagen.
»Du bist ein Mann, also keine Verlockung für ihn«, flüsterte ich hektisch. »Aber du bist stärker und schneller als ich, du kannst der Frau am ehesten helfen, wenn sie noch am Leben ist. Jetzt hör auf herumzudiskutieren und geh .«
Damit drückte ich Bones meinen Salbei in die Hand und rannte Kramer entgegen, die Arme in der Luft schwenkend, damit er gleich wusste, dass ich kein Anti-Geister-Kraut bei mir hatte. Hinter mir fluchte Bones, aber ich drehte mich nicht um. Ich hatte recht, und das wusste ich auch. Bones gefiel das vielleicht nicht, aber das änderte nichts an den Tatsachen.
Jetzt musste ich Kramer nur noch dazu bringen, mich anzugreifen, statt sein Opfer zu verteidigen. Wenn er die Frau nicht schon umgebracht hatte, denn was mit Francine und Lisa passiert war, musste ihm vor Augen geführt haben, dass er uns nicht aufhalten konnte, wenn wir sie ihm entreißen wollten. Hoffentlich würde er etwas von seinem Frust an mir auslassen, statt noch ein paar letzte Augenblicke mit der anderen zu verbringen.
»Hey Casper, du hässlicher Geist!«, rief ich, als Kramer mehr an Bones als an mir interessiert zu sein schien. »Ich wette, ich kann dir eins auf dein Stoppelkinn verpassen, bevor du mich zu fassen kriegst!«
Die Passanten auf dem Gehweg drehten sich nach mir um, aber meine Aufmerksamkeit galt allein der nebligen Gestalt in der mönchsartigen Kutte. Ich war dem Geist jetzt so nah, dass ich sehen konnte, wie seine Nasenlöcher sich blähten, als ich ihn an die beiden Boxhiebe erinnerte, die ich ihm in der kurzen Zeit verpasst hatte, in der er sich körperlich hatte manifestieren können. Aber er schaute wieder an mir vorbei, als könnte er sich nicht entscheiden, wen er angreifen sollte. Nimm mich!, drängte ich ihn im Geiste und machte dann einen Satz, um die kurze Strecke zu überwinden, die uns noch trennte.
»Hier kommt Treffer Nummer drei!«, verkündete ich und ließ die Faust durch sein Kinn sausen.
Er hatte zwar keine feste Form, aber entweder die Geste oder die Worte trieben ihn zum Handeln. Er stieß einen Fluch aus und ging zum Angriff über, sein Arm schnellte vor.
Ich duckte mich, aber nicht schnell genug. Schmerz explodierte an der Seite meines Schädels; der Energiestoß war stärker als ein wirklicher Schlag. Ich konnte gerade noch verhindern, dass ich in ein Schaufenster taumelte, und kollidierte stattdessen mit einer Wand.
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