Verloren: House of Night 10 (German Edition)
Sturm von Gefühlen in ihm.
Verwirrung – er hatte niemandem etwas tun wollen, und doch hatte er Dragon und vielleicht auch Rephaim getötet.
Wut – er war manipuliert und gegen seinen Willen benutzt worden!
Verzweiflung – niemand würde ihm je glauben, dass er nichts Böses im Sinn gehabt hatte. Er war eine Bestie, eine Kreatur der Finsternis. Neferets Gefäß. Sie alle würden ihn hassen. Zoey würde ihn hassen.
Einsamkeit – nein, er war nicht Neferets Gefäß. Egal, was heute Nacht geschehen war. Egal, auf welche Weise es ihr gelungen war, ihn zu beherrschen. Er gehörte nicht Neferet. Er würde ihr niemals gehören. Nicht nach dem, was er heute Nacht mit angesehen … und erfahren hatte.
Er hatte das Licht gespürt. Obgleich er nicht in der Lage gewesen war, sich ihm hinzugeben, hatte er gespürt, wie mächtig und gütig es in den Kreis geströmt war, und hatte seine Schönheit in der Beschwörung der Elemente erkannt. Bis die widerwärtigen Fäden sich seiner bemächtigt und die Bestie in ihm erweckt hatten, hatte er gebannt und tief bewegt dem Ritual zugesehen, an dessen Höhepunkt das Licht die Berührung der Finsternis von dem Land abgewaschen hatte – und von ihm, wenn diese Reinigung auch nur einen Moment lang gewährt hatte. Gerade lange genug, um zu erkennen, was er getan hatte. Dann hatten die gerechte Wut und der verständliche Hass, den die Krieger ihm entgegenbrachten, wieder die Oberhand gewonnen, und Aurox war nur so viel Menschlichkeit geblieben, dass er fliehen konnte, statt Zoey zu töten.
Aurox erzitterte und stöhnte auf, als die Verwandlung ihn überkam und er von der Bestie zum Jungen wurde, barfuß und mit nacktem Oberkörper, nur mit einer zerfetzten Jeans bekleidet. Eine gewaltige Schwäche überkam ihn, und schwer atmend und zitternd verlangsamte er sein Tempo. Sein Geist lag im Krieg mit sich selbst, Selbsthass erfüllte ihn. Ziellos wanderte er durch die beginnende Morgendämmerung, verschwendete keinen Gedanken daran, wo er sich befand, bis er die Bedürfnisse seines Körpers nicht länger ignorieren konnte und dem Geruch und dem Plätschern fließenden Wassers folgte. Am Ufer eines kristallklaren Bächleins kniete er nieder und trank, bis die Flammen in ihm gelöscht waren, und brach dann vor Erschöpfung und Verzweiflung zusammen. Traumloser Schlaf ging in seinem inneren Kampf als Sieger hervor und löschte Aurox’ sämtliche Sorgen aus.
Er erwachte zu ihrem Gesang. Er klang so tröstlich, so friedvoll, dass er die Augen zunächst nicht öffnete. Ihre Stimme hob und senkte sich rhythmisch, wie ein Herzschlag, aber nicht nur der Rhythmus berührte Aurox tief. Nein, es waren die Gefühle, die das Lied erfüllten. Er nahm sie nicht in der Art auf, wie er sonst feindselige Emotionen anderer in die Energie umwandelte, die ihm die Gestalt der Bestie verlieh. Die Gefühle des Liedes lagen ganz in jener Stimme – Freude, Glückseligkeit, Dankbarkeit. Er sog sie nicht auf, nein, sie ließen Bilder des Glücks in ihm entstehen und führten dazu, dass sein erwachender Geist mit der Idee der Freude spielte. Er verstand keines der Worte, aber das war auch nicht nötig. Ihre Stimme allein war etwas, was jede Sprache überstieg.
Während er wacher wurde, keimte in ihm der Wunsch, die Person zu sehen, der die Stimme gehörte. Sie nach der Freude zu fragen. Vielleicht zu lernen, wie er das Gefühl selbst in sich entfachen konnte. Aurox öffnete die Augen und setzte sich auf. Er war nicht weit von dem kleinen Farmhaus zusammengebrochen, direkt am Ufer des Baches, der als gewundenes durchsichtiges Band leise murmelnd über Sand und Stein perlte. Aurox’ Blick folgte dem Bach ein Stück, und dort stand sie in einem ärmellosen Kleid mit langen Lederfransen, bestickt mit Perlen und Muscheln. Anmutig tanzte sie mit bloßen Füßen im Rhythmus ihres Gesangs. Obwohl die Sonne sich eben erst über den Horizont erhob und der Morgen noch kühl war, sah sie erhitzt, warm, lebendig aus. Von einem Bündel getrockneter Pflanzen in ihrer Hand stieg Rauch auf, der scheinbar ebenfalls in jenem Rhythmus zu tanzen schien.
Allein bei diesem Anblick wurde Aurox froh zumute. Er musste ihre Freude nicht in sich einsaugen, so stark und klar strahlte alles an ihr sie aus. Die Frau war so davon erfüllt, dass sie buchstäblich überfloss und auch sein Herz leichter machte. Sie warf den Kopf zurück, und ihr langes Haar, silbern mit schwarzen Strähnen, fiel ihr bis auf die schlanke Taille. Sie hob
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