Verloren: House of Night 10 (German Edition)
die bloßen Arme, als wollte sie die aufsteigende Sonne umarmen, und begann, mit ihrem rhythmischen Tanz einen Kreis zu beschreiben.
Er war so von ihrem Gesang gefesselt, dass ihm nicht bewusst wurde, dass sie ihn bei der nächsten Drehung sehen würde, da traf ihn auch schon ihr Blick. Da erkannte er sie. Es war Zoeys Großmutter, die in der Nacht die Mitte des Kreises gebildet hatte. Er dachte, sie würde nach Luft schnappen oder schreien, als sie ihn so plötzlich in dem hohen Gras an ihrem Bach sitzen sah. Doch sie beendete nur ihren freudigen Tanz. Ihr Lied verstummte. Mit ruhiger, klarer Stimme sagte sie: »Ich sehe dich, tsu-ka-nv-s-di-na . Du bist der Gestaltwandler, der heute Nacht Dragon Lankford getötet hat. Auch Rephaim wolltest du töten, aber das ist dir nicht gelungen. Und du bist auf meine geliebte Enkelin zugerannt, als wolltest du ihr Böses. Bist du nun hier, um auch mich zu töten?«
Sie hob wieder die Arme, nahm einen tiefen Zug der kühlen, reinen Morgenluft und schloss: »Wenn ja, so höre, Himmel, dass mein Name Sylvia Redbird ist, und heute ist ein guter Tag zum Sterben. Ich werde voller Freude zur Großen Mutter gehen, wo meine Ahnen auf mich warten.« Und dann lächelte sie ihn an.
Dieses Lächeln war es, dem er erlag. Er spürte sich innerlich zerbrechen, und mit zitternder Stimme, die er kaum als die seine erkannte, sagte er: »Ich will Euch nicht töten. Ich bin nur hier, weil ich nicht weiß, wohin ich sonst gehen soll.«
Und dann begann er, zu weinen.
Sylvia Redbird zögerte nur einen Herzschlag lang. Durch seine Tränen hindurch sah er, wie sie wieder die Augen zum Himmel hob und nickte, als habe sie die Antwort auf eine Frage erhalten. Dann kam sie anmutig auf ihn zu. Die langen Lederfransen an ihrem Kleid klimperten melodisch zu jedem ihrer Schritte und im Fächeln der kühlen Morgenbrise.
Ohne zu zögern, setzte sie sich neben ihn, kreuzte die Beine, und dann schlang sie die Arme um ihn und zog seinen Kopf an ihre Schulter.
Er hätte nicht sagen können, wie lange sie so dasaßen. Er wusste nur, dass sie ihn festhielt, während er schluchzte, ihn sanft hin- und herwiegte, ihm leise im Takt ihres Herzschlags den Rücken tätschelte und dazu ein Lied summte.
Irgendwann schob er sie fort und wandte beschämt das Gesicht ab.
»Nein, Kind«, sagte sie, nahm ihn bei den Schultern und zwang ihn, sie anzusehen. »Bevor du dich abwendest, sag mir, warum du geweint hast.«
Aurox rieb sich das Gesicht, räusperte sich und sagte, wobei er fand, es klinge sehr jung und sehr albern: »Weil es mir leidtut.«
Sylvia Redbird sah ihm in die Augen. »Und?«
Langsam ließ er den Atem entweichen. »Und weil ich so allein bin«, gestand er.
Sylvias dunkle Augen weiteten sich. »An dir ist mehr, als du zu sein scheinst.«
»Ja«, stimmte er zu. »Ich bin eine Bestie, ein Monster der Finsternis.«
Ihre Mundwinkel hoben sich. »Kann eine Bestie vor Reue weinen? Ist die Finsternis fähig, Einsamkeit zu empfinden? Ich glaube nicht.«
»Warum komme ich mir dann so albern dabei vor, zu weinen?«
»Sieh es so, dass dein Geist weinte«, sagte sie. »Es war ihm ein Bedürfnis zu weinen, weil er Reue und Einsamkeit verspürte. Ob das albern ist, musst du selbst entscheiden. Ich für meinen Teil weiß schon lange, dass es keine Schande ist, aufrichtige Tränen zu vergießen.« Sie stand auf und hielt ihm eine schmale, täuschend zerbrechlich aussehende Hand hin. »Komm mit, Kind. Du sollst mein Gast sein.«
»Warum? Ihr habt gesehen, wie ich heute Nacht einen Krieger tötete und einen anderen verwundete. Und Zoey hätte ich auch töten können.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn genau. »Hättest du? Ich glaube nicht. Zumindest glaube ich, dass der Junge, der in diesem Moment vor mir steht, es nicht könnte.«
Aurox’ Schultern sanken nach vorn. »Aber nur Ihr glaubt das. Niemand sonst wird es glauben.«
»Nun, tsu-ka-nv-s-di-na , im Moment ist aber niemand außer mir da. Reicht das nicht aus, was ich glaube?«
Wieder rieb sich Aurox das Gesicht und stand etwas unsicher auf. Dann nahm er sehr vorsichtig ihre zarte Hand. »Sylvia Redbird, für den Moment reicht es aus, was Ihr glaubt.«
Sie drückte seine Hand, lächelte und sagte: »Nenn’ mich Grandma.«
»Und wie nennt Ihr mich, Grandma?«
» Tsu-ka-nv-s-di-na ist das Wort meines Volkes für Bulle.«
Ihm wurde heiß und dann kalt. »Die Bestie, zu der ich werde, ist schrecklicher als ein Bulle.«
»Dann wird es ihr
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