Verloren: House of Night 10 (German Edition)
das Wort Miststück formte, aber Aphrodite hatte mal wieder beschlossen, Shaylin zu ignorieren. Und zum Glück nicht anzusehen.
»Shaylin, Kind, ich bin neugierig«, sagte Thanatos abrupt. »Warum hast du die beiden Priesterinnen und die Prophetin begleitet?«
Wir Priesterinnen samt Prophetin verstummten. Ich persönlich war sehr gespannt, wie Shaylin sich Thanatos gegenüber verhalten würde. Stevie Rae schwieg sicher aus dem gleichen Grund. Aphrodites Beweggründe hatte Shaylin gerade schon kurz und treffend zusammengefasst: Miststück.
Die kleine rote Jungvampyrin reckte das Kinn und machte ein wahnsinnig stures Gesicht. »Weil ich mit Ihnen über meine Gabe reden wollte. Die drei sind damit einverstanden.« Sie hielt inne, sah zu Aphrodite hinüber und fügte hinzu: »Na ja, zwei von ihnen sind einverstanden.«
»Welche Gabe hat Nyx dir denn verliehen, Jungvampyrin?«
»Den Wahren Blick. Glaube ich.« Sie sah mich und Stevie Rae nervös an. »Stimmt doch?«
»Ja, glauben wir jedenfalls«, sagte ich.
»Jep. Sagt zumindest Damien, der’s recherchiert hat, und wenn’s um Recherche geht, hat Damien meistens recht«, fügte Stevie Rae hinzu.
»Sie behauptet, Neferet habe die Farbe von toten Fischaugen. Für mich spricht das dafür, dass es sich nicht nur um einen Fall von milder Retardierung oder psychotischen Wahnvorstellungen handelt«, meldete sich erstaunlicherweise Aphrodite.
Thanatos sah Shaylin an, als läge die zwischen zwei Glasscheiben gepresst unter einem Mikroskop. »Du kannst Auren sehen?«
»Ich seh’ Farben«, sagte Shaylin. »Ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll. Ich – ich war blind, bis ich Gezeichnet wurde. Seit ich fünf war. Und plötzlich – zapp! – habe ich eine rote Mondsichel auf der Stirn, kann wieder sehen und sehe außerdem Farben. Massenhaft Farben. Und durch sie erfahre ich Sachen über Leute. So, wie ich Neferet nur anzuschauen brauchte und wusste, dass sie innerlich verrottet ist. Obwohl sie äußerlich so schön ist.« Ich sah, wie sie hinter dem Rücken die Hände verknotete, aber zu Thanatos hin blieb sie ganz ruhig. »Auf dieselbe Art hab ich gesehen, dass Erik Night im Prinzip ein netter Typ ist, aber schwach. Er hat sich’s immer leichtgemacht. Und Ihre Farbe ist schwarz, aber nicht einfach pechschwarz. Sondern tief und kräftig, und immer wieder zucken winzig kleine goldene Blitze hindurch.« Sie seufzte. »Ich glaube, das heißt, Sie sind total alt und klug und mächtig, aber Sie haben auch ’n ziemliches Temperament, das Sie unter Kontrolle halten. Meistens jedenfalls.«
Thanatos’ Lippen zuckten. »Sprich weiter.«
Shaylin warf einen schnellen Blick auf Stevie Rae, dann sah sie wieder Thanatos an. »Stevie Raes Farben sind wie ein Feuerwerk. Deshalb glaube ich, sie ist die liebste und fröhlichste Person, die ich je getroffen habe.«
Stevie Rae lächelte sie ein bisschen traurig an. »Das sagst du nur, weil du Jack nich gekannt hast. Aber danke. Das war ’n klasse Kompliment.«
»Ich will keine Komplimente machen. Ich will versuchen, die Wahrheit zu sagen.« Sie blickte Aphrodite an. »Also, meistens versuche ich, die Wahrheit zu sagen.«
Aphrodite schnaubte.
Ich wartete darauf, dass ich an die Reihe kam – dass Shaylin Thanatos erzählte, dass meine Farben dunkler geworden waren, weil ich mir wahnsinnige Sorgen machte –, aber sie sagte nichts dergleichen. Sie nickte nur kurz mit dem Kopf, als hätte sie eine Entscheidung getroffen, und schloss: »Deshalb bin ich hier. Ich will Sie um Rat fragen, wie ich meine Gabe einsetzen soll und was sie eigentlich ist.«
Ich glaube, das war der Moment, als ich anfing, sie wirklich ernst zu nehmen. Thanatos war nicht irgendeine Hohepriesterin. Sie war Mitglied des Hohen Rates aller Vampyre und hatte eine Affinität zum Tod. Also, Thanatos war furchteinflößend – wirklich. Und da stand Shaylin mit ihren knapp fünfundvierzig Kilo und nicht mal einem Monat Erfahrung als Jungvampyr, ließ sich nicht von ihr einschüchtern und gab nichts von meinen privaten Geheimnissen preis. Nicht mal Aphrodites flackerndes Buttergelb hatte sie erwähnt. Das erforderte Mumm. Eine Menge.
Ich sah auf Shaylins verkrampfte Hände hinab. Ihre Finger waren weiß geworden. Ich wusste, wie sie sich fühlte. Auch ich hatte, kurz nachdem ich Gezeichnet worden war, schon Aug’ in Auge mit einer mächtigen Hohepriesterin stehen müssen.
Ich trat dichter neben sie. »Egal, wie man das nennen will, was sie sieht, sie hat eine
Weitere Kostenlose Bücher