Verloren: House of Night 10 (German Edition)
hast total den Verstand verloren«, knurrte Aphrodite, aufgeplustert wie ein Kugelfisch.
»Wieder die streitenden Kinder.« Ohne dass Thanatos die Stimme erhob, zerschlugen ihre Worte mühelos die Wir-gehen-uns-gleich-an-die-Kehle-Spannung zwischen den beiden.
»Sie wollen sich eigentlich nicht streiten«, sagte ich in die Stille. »Keiner von uns will sich streiten. Aber wir sind alle frustriert, weil wir dachten, Sie und der Hohe Rat würden irgendwas unternehmen, um uns gegen Neferet zu helfen.«
»Lasst mich euch zeigen, was wir sind, dann begreift ihr vielleicht mehr von diesem Kampf, den ihr unbedingt zu den Menschen tragen wollt.« Sie hob die rechte Hand etwa auf Brusthöhe vor sich, die Handfläche zu einer Schale geformt. Dann atmete sie tief ein, ließ die linke Hand kreisen, als rührte sie die Luft über ihrer Handfläche um, und sagte: »Sehet, die Welt!« Ihre Stimme war hypnotisierend und voller Macht. Mein Blick wurde von ihrer Handfläche angezogen. Darüber materialisierte sich eine Weltkugel. Und zwar eine atemberaubende – nicht so wie die langweiligen Globusse, die von Geschichts- und Erdkundelehrern als Staubfänger benutzt werden. Dieser sah aus, als bestünde er aus schwarzem Rauch. Die Ozeane wogten und kräuselten sich. Wie aus Onyx traten die Kontinente daraus hervor.
»Achdu liebe güte!«, flüsterte Stevie Rae. »Ist das schön!«
»In der Tat«, sagte Thanatos. »Und nun seht, was wir in der Welt sind.« Sie schnippte mit der linken Hand über den Globus, als wollte sie ihn mit Wasser besprenkeln. Aphrodite, Stevie Rae, Shaylin und ich keuchten auf. Auf den Landmassen funkelten plötzlich winzige Lichter wie Diamantsplitter.
»Wunderschön«, sagte ich.
Aphrodite trat einen Schritt näher. »Sind das Diamanten? Echte Diamanten?«
»Nein, junge Prophetin. Es sind Seelen. Vampyrseelen. Das sind wir.«
»Das sind aber wenige Lichter – ich meine, verglichen mit dem Rest der Welt«, sagte Shaylin.
Stirnrunzelnd trat ich neben Aphrodite. Es stimmte – nur spärlich verstreut glitzerten die Pünktchen auf der riesig wirkenden Weltkugel. Ich starrte und starrte. Ein paar größere Funkelhäufchen gab es: Venedig, die Isle of Skye, irgendwo rechts dazwischen – vielleicht in Deutschland? Ein Lichthäufchen in Frankreich, ein paar Fleckchen in Kanada und ein paar mehr über die Festlandstaaten der USA verteilt – aber nicht viel mehr.
»Ist das Australien?«, fragte Stevie Rae.
Ich spähte auf die andere Seite der Weltkugel. Dort war auch eine kleine Funkelkonzentration.
»Ja. Und daneben Neuseeland.«
»Und das ist Japan, oder?« Shaylin zeigte auf ein weiteres Funkelhäufchen.
»Ja.«
»Amerika hätte ein paar Diamanten mehr nötig«, sagte Aphrodite.
Thanatos beachtete sie nicht. Sie sah mich an. Ich wandte den Blick dem Globus zu. Langsam ging ich um Thanatos herum und wünschte, ich hätte all die Jahre in Erdkunde besser aufgepasst. Als ich wieder an meinem ursprünglichen Platz angelangt war, sah ich der Hohepriesterin in die Augen.
»Es gibt nicht genug von uns.«
»Leider ist genau das die bittere Wahrheit. Wir sind mit großen geistigen, körperlichen und magischen Gaben gesegnet, aber wir sind wenige.«
»Das heißt, wenn wir mit den Menschen reden würden – selbst wenn wir sie dazu bringen könnten, uns zuzuhören –, würden wir ihnen eine Tür in unsere Welt aufstoßen, die besser geschlossen bliebe«, sagte Aphrodite ruhig, erwachsen und ungewöhnlich unbiestig. »Sie würden anfangen, zu denken, ihre Regeln würden auch für uns gelten und wir bräuchten sie, um Ordnung unter unsresgleichen zu halten, und damit würden unsere Lichter eines nach dem anderen erlöschen.«
»Schlicht und gut erklärt.« Thanatos klatschte in die Hände, und die Weltkugel verschwand in einer kleinen glitzernden Rauchwolke.
»Aber was machen wir dann?«, fragte Stevie Rae. »Wir können doch Neferet nich einfach ihr Ding durchziehen lassen. Die ist doch nich mit ’ner Pressekonferenz, ’nem Komitee und ’ner Zeitungskolumne zufrieden! Die will Tod und Verderben! Herrschaftszeiten, ihr Macker ist die Finsternis!«
»Wir müssen Feuer mit Feuer bekämpfen«, sagte Shaylin.
»Oh, verflucht nochmal, nicht noch eine, die nur in schlechten Metaphern redet, statt zu sagen, was Sache ist!«, explodierte Aphrodite.
»Was ich meine, ist, wenn Neferet Menschen mit reinzieht, sollten wir das auch. Aber zu unseren eigenen Bedingungen.« Ich sah, wie ihr Mund danach noch
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