Verloren: House of Night 10 (German Edition)
wahrnehmen.
Das Auto stand noch dort, wo er es am Tag zuvor zurückgelassen hatte. Auch der Schlüssel steckte noch. Seine Hände zitterten nur ganz leicht, als der Motor ansprang und er den Wagen vom hinteren Parkplatz des Utica Square hinunter nach Südosten lenkte – zu dem einzigen sicheren Ort, den er kannte.
Die Fahrt schien im Nu zu vergehen. Er war dankbar dafür. Als er das Auto über Grandmas Schotterweg steuerte, drehte er die Fenster herunter. Der Tag war kühl, aber er wollte den Duft des Lavendels genießen, sich seiner Ruhe anvertrauen. Genau wie er sich der Zuflucht anvertrauen wollte, die Grandma Redbird ihm angeboten hatte.
Alles änderte sich in dem Moment, als er vor ihrer großen Veranda parkte. Zuerst begriff er es nicht – konnte es nicht einordnen. Der Geruch wehte ihn an, doch er weigerte sich, die Gewissheit anzuerkennen, die darin schwang.
»Grandma? Grandma Redbird?«, rief er, während er aus dem Auto stieg, und rannte um das kleine Blockhaus herum. Er hoffte, sie an dem kleinen kristallklaren Bach zu finden – dorthin gehörte sie. Dort hätte sie stehen sollen, ein frohes Lied auf den Lippen. Friedvoll. Sicher. Geborgen.
Aber dort war sie nicht.
Eine schreckliche Vorahnung überkam ihn. Und er rief sich den üblen Gestank ins Bewusstsein, der ihn unter dem Lavendelduft angeweht hatte, als er das Auto geparkt hatte.
Aurox rannte zurück.
»Grandma! Wo seid Ihr?«, schrie er, während er wieder um die Ecke des Häuschens bog und seine Füße in dem losen Schotter des Vorplatzes auszurutschen drohten. Er ergriff das Geländer, sprang in zwei großen Sätzen die sechs Stufen hinauf und verhielt einen Augenblick lang mitten auf der geräumigen Holzfläche genau vor Grandmas geschlossener Eingangstür. Dann riss er sie auf und stürmte hinein.
»Grandma! Ich bin es, Aurox, dein tsu-ka-nv-s-di-na. Ich bin zurück!«
Nichts. Sie war nicht da. Und alles fühlte sich so verkehrt an, so schrecklich verkehrt.
Aurox trat wieder auf die Veranda hinaus. Hier war der Gestank am deutlichsten.
Finsternis. Furcht. Hass. Schmerz. All das sprang ihn aus dem Blut an, mit dem die Veranda gesprenkelt war – und mehr. Während er dort stand, schwer atmend, und in ihm die grausame Gewissheit wuchs, dass hier Gewalt und Zerstörung am Werk gewesen waren, kam der Rauch zu ihm. In feinen Wirbeln stieg er um seine in Mokassins gekleideten Füße auf, und in dem hellgrauen Nebel schwangen federleichte Fragmente der Erinnerung mit – das Echo eines uralten Gesangs, getragen von einer von Mut und Kraft erfüllten Frauenstimme.
Aurox schloss die Augen und atmete tief ein. Bitte , flehte er stumm, lass mich verstehen, was hier geschah.
Gefühle stürmten auf ihn ein – Hass und Zorn. Sie zu verstehen, war nicht schwer, sie waren ihm vertraut. »Neferet«, flüsterte er. »Du warst hier. Ich rieche dich. Ich fühle dich.« Doch es waren die Gefühle, die als Nächstes kamen, welche ihn in die Knie zwangen.
Aurox fühlte Sylvia Redbirds Mut. Er erspürte ihre Weisheit und Entschlossenheit – und schließlich ihre Angst.
Er sank in die Knie. »Oh Göttin, nein!«, schrie er zum Himmel auf. »Dieses Blut gehört Neferet, die von Grandma Redbird verwundet wurde. Hat Neferet Grandma getötet wie schon ihre Tochter? Aber wo ist ihre Leiche?«
Doch es kam keine Antwort außer dem Seufzen des rauschenden Windes und dem störenden Krächzen eines riesigen Raben, der sich auf dem äußersten Rand des Geländers niedergelassen hatte.
»Rephaim, bist du das?« Der Rabe starrte ihn an und ruckte dabei den Kopf mal zur einen, mal zur anderen Seite. Aurox raufte sich das verdreckte Haar. »Ach, wenn die Göttin mich doch von dem Stier befreien und mich stattdessen zum Vogel machen würde. Dann würde ich in den Himmel aufsteigen und einfach fliegen, immer weiter und weiter.«
Der Rabe krächzte ihn noch einmal an, breitete die Flügel aus und flog davon. Aurox blieb allein zurück.
Er hätte zu gleichen Teilen heulen mögen vor Verzweiflung – und die Bestie rufen mögen, um seine Wut und seinen Frust an irgendwem auszulassen.
Doch der Junge, in dem eine Bestie schlummerte, wählte weder das eine noch das andere. Er tat gar nichts – außer nachzudenken. Lange Zeit saß er auf Grandmas Veranda und tastete sich zwischen den Überresten von Blut und Rauch, Furcht und Mut einem Entschluss entgegen.
Wenn Neferet Grandma Redbird getötet hätte, wäre ihre Leiche hier. Neferet hat keinen Grund, ihre
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