Verloren: House of Night 10 (German Edition)
»Ich danke dir für diese Warnung, Erdmutter. Mein Geist hört dich, und mein Körper gehorcht.« Langsam und feierlich stand die alte Frau auf. Sie ging in ihr Schlafzimmer hinüber, streifte ihr Nachthemd ab und öffnete den großen Schrank, der vor der Wand aus geschälten Kiefernstämmen stand. Sie nahm ihre kostbarste Tracht heraus – das Cape und den Rock, die sie sich selbst geschneidert hatte, als sie mit Linda schwanger war. Das Hirschleder war alt und hing etwas lose an ihrem schmalen Körper, aber es war noch immer so weich und anschmiegsam wie damals. Auch nach drei Jahrzehnten war das Grün, das Sylvia mit so viel Zeit und Mühe genau der Farbe von Moos nachempfunden hatte, nicht verblasst. Nicht eine der Muscheln oder Perlen hatte sich gelöst.
Als Sylvia ihr langes silbernes Haar zu einem dicken Zopf flocht, begann sie, das Lied für eine Frau, die im Krieg Mut bewies laut zu singen.
Sie schmückte ihre Ohren mit Anhängern aus Silber und Türkis.
Während ihre Stimme abwechselnd anschwoll und abebbte und ihre bloßen Füße den Takt stampften, schlang sie sich Ketten aus Türkisen um den Hals, eine über der anderen, bis das Gewicht sich vertraut und warm anfühlte. Auch über ihre zierlichen Handgelenke streifte sie dicke Reifen aus Türkisen sowie dünnere, schmalere Bänder aus Silber und Türkis – immer nur Türkis –, bis beide Unterarme fast bis zu den Ellbogen davon bedeckt waren.
Erst dann nahm Sylvia Redbird ihren Räucherzopf und eine lange Schachtel Streichhölzer und verließ ihr Schlafzimmer.
Sie überließ es ihrem Geist, ihre Schritte zu lenken. Und dieser führte sie nicht an den klaren sprudelnden Bach hinter ihrem Haus, wo sie üblicherweise den Sonnenaufgang begrüßte. Stattdessen fand sie sich mitten auf ihrer breiten Veranda wieder. Sie folgte weiter ihren Instinkten und zündete den Räucherzopf an. Mit anmutigen, geübten Gesten hüllte sie ihren Körper in die Düfte von Süßgras und Lavendel. Ganz in Rauch gehüllt, mit dem Kriegslied einer Weisen Frau auf den Lippen, sah sie, wie sich dichte Schwaden aus Finsternis vor ihr bildeten und Neferet daraus hervortrat.
Neferet
Sylvia Redbirds Gesang klang wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzen.
»Nach euren eigenen Sitten ist es unhöflich, einen Gast nicht zu begrüßen«, sprach Neferet mit erhobener Stimme, um das grässliche Lied der alten Frau zu übertönen.
»Gäste lädt man ein. Sie habe ich nicht eingeladen. Also sind Sie ein Eindringling, und als solchen begrüße ich Sie nach den Sitten und Gebräuchen meines Volkes.«
Neferet verzog den Mund. Die Alte sang nicht mehr, aber ihre Füße stampften weiterhin den monotonen Rhythmus. »Dein Gesinge ist fast so scheußlich wie dieser Rauch. Glaubst du wirklich, der Gestank würde dich beschützen?«
»Ich glaube so manches, Tsi Sgili«, erwiderte Sylvia, während sie weiter auf der Stelle tanzte und mit dem Zopf wedelte. »Momentan glaube ich, dass Sie einen Schwur gebrochen haben, den Sie mir gegeben haben, als meine u-we-tsi a-ge-hu-tsa erstmals Ihre Welt betrat. Dafür ziehe ich Sie nun zur Rechenschaft.«
Die Dreistigkeit der alten Frau war beinahe belustigend. »Ich habe dir nichts geschworen.«
»Doch, haben Sie. Sie haben mir geschworen, Zoey zu beschützen und als Mentorin anzuleiten. Diesen Schwur haben Sie gebrochen. Und dafür schulden Sie mir etwas.«
»Alte Frau, ich bin unsterblich. Deine Regeln gelten für mich nicht«, gab Neferet spöttisch zurück.
»Mag sein, dass Sie unsterblich sind. Aber das ändert nichts an den Gesetzen der Großen Mutter.«
»Vielleicht nicht. Aber daran, wie bindend sie sind.«
»Ihr gebrochener Schwur ist nur eine von vielen Schulden, die Sie bei mir haben, Hexe«, sagte Sylvia.
»Ich bin keine Hexe, sondern eine Göttin!« Neferet spürte Wut in sich aufwallen. Langsam näherte sie sich der Veranda. Die Ranken der Finsternis begleiteten sie, doch es kam ihr vor, als zauderten sie ein wenig, als Schwaden weißen Rauchs auf sie niedersanken und sich dicht vor ihnen aufzulösen schienen.
Sylvia tanzte und tanzte und schwenkte dabei unermüdlich ihren stinkenden Zopf. »Die zweite Schuld, die Sie bei mir haben, ist noch weit größer als ein gebrochener Schwur. Sie schulden mir ein Leben. Sie haben meine Tochter getötet.«
»Nichts schulde ich dir! Ich habe deine Tochter einem höheren Zweck geopfert.«
Die alte Frau beachtete ihre Worte nicht. Stattdessen unterbrach sie ihren Tanz, legte
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