Verloren: House of Night 10 (German Edition)
den Räucherzopf zu ihren Füßen nieder und wandte den Blick nach oben. Weit breitete sie die Arme aus, als wollte sie den Himmel umarmen. »Große Erdmutter, höre mich. Ich bin Sylvia Redbird, Weise Frau der Cherokee und Ghigua meines Stammes, des Stammes vom House of Night. Ich erflehe deine Gunst. Die Tsi Sgili Neferet, ehemals Hohepriesterin der Nyx, ist meineidig. Sie schuldet mir den Preis für ihren Eidbruch. Sie ist auch die Mörderin meiner Tochter. Sie schuldet mir den Preis für deren Leben. Ich flehe dich um Hilfe an, Erdmutter, und erkläre die Zeit für gekommen, da beide Schulden beglichen werden müssen. Der Preis, um den ich bitte, ist, dass ich vor ihr geschützt sei.«
Ohne sich um die Fühler der Finsternis zu kümmern, die unsicher zurückblieben, erklomm Neferet die Stufen der Veranda, ging auf Sylvia zu. »Du irrst dich gewaltig, alte Frau. Ich bin die einzige Göttin, die dich hört. Mich und nur mich solltest du um Schutz anflehen.«
Als Neferet die rauchgeschwängerte Veranda betrat, erhob Sylvia wieder die Stimme. Ihr Ton aber war ganz anders. Zuvor, bei der Beschwörung derjenigen, die sie als Erdmutter bezeichnete, hatte sie kraftvoll geklungen. Nun sprach sie weicher, leiser. Ihre Arme hatten sich gesenkt. Ihr Gesicht war nicht mehr bittend zum Himmel erhoben. Stattdessen sah sie Neferet offen in die Augen. »Sie sind keine Göttin. Sie sind ein boshaftes, gebrochenes kleines Mädchen. Ich bedaure Sie. Was ist Ihnen nur zugestoßen? Wer hat Sie so vollkommen zerbrochen, Kind?«
Neferets Wut glühte so heiß, dass sie glaubte zu explodieren. Vergessen waren ihre finsteren Diener – mit der eigenen Hand schlug sie nach Sylvia, wollte die Wucht des Hiebes spüren, wollte diesem anmaßenden Weibsstück die Augen auskratzen, die Zähne in sie schlagen und sie in Stücke reißen.
Viel flinker, als man es ihrem Alter hätte zutrauen sollen, hob Sylvia die Arme schützend vors Gesicht.
In dem Moment, als Neferets Fäuste die verschrumpelten alten Arme berührten, durchschoss ein brennender Schmerz ihren ganzen Körper. Mit einem Schrei sprang sie zurück und starrte die blutigen Male an ihren Händen an, die exakt die Form der blauen Steine in dem üppigen Schmuck der Alten hatten.
»Du wagst es, mich anzugreifen! Eine Göttin!«
»Ich greife niemanden an. Ich verteidige mich lediglich mit Hilfe der schützenden Steine, mit denen die Große Mutter mich beschenkt hat.« Ohne den Blick abzuwenden oder ihre mit Türkis und Silber bewehrten Arme zu senken, begann die alte Frau wieder, zu singen.
Neferet gierte danach, sie mit ihren Krallen zu zerfetzen. Doch als sie sich der Cherokee wieder näherte, spürte sie die Hitze, die von den zahllosen blauen Steinen in deren Schmuck ausging. Es war, als strömten sie ein Feuer aus, das ihrem eigenen heißen Zorn ebenbürtig war.
Sie brauchte den weißen Stier! Seine eisige Finsternis würde die Flammen der Alten zum Erlöschen bringen. Vielleicht wäre er sogar überrascht über die seltsame Energie, über die diese gebot, und würde Neferet wieder aus seiner faszinierenden Macht schöpfen lassen.
Neferet unterdrückte ihren Zorn und zog sich aus dem Ring aus Rauch und Hitze zurück, der sich um Sylvia gebildet hatte. Sie musterte die alte Frau, beobachtete ihren Tanz, lauschte auf ihr Lied. Alt. Uralt. Alles an Sylvia Redbird erweckte den Eindruck, als ob sie und die Erdmacht, über die sie gebot, schon seit langer, langer Zeit existierten.
Auch der weiße Stier existierte schon seit langer, langer Zeit. Nein, diese Indianerin würde ihn nicht überraschen.
»Dann werde ich mich deiner also selbst annehmen.« Neferet sah Sylvia weiter in die Augen, hob die Hände und bohrte, ohne mit der Wimper zu zucken, ihre scharfen Fingernägel in die Wunden, die die Schutztürkise der Alten gebrannt hatten. Wie ein Platzregen spritzte ihr Blut auf die Veranda. Neferet schüttelte die Hände, ließ die scharlachroten Tropfen in die Rauchwolke niedergehen, was diese zerfasern ließ, und besprühte die alte Frau mit leuchtend roten Spritzern, die sich grell von dem erdigen Grün und Blau ihrer Kleidung abhoben. Dann drehte Neferet die Hände um und ließ das Blut in ihre Handflächen rinnen. »Kommt, meine finsteren Kinder, trinkt!« Einen Moment lang zögerten die Fühler, doch nach dem ersten Vorgeschmack auf Neferets Blut fassten sie Mut.
Neferet sah, wie sich Sylvias Augen weiteten und Furcht sie verdüsterte. Der Blick der alten Frau wankte nicht,
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