Verloren in deiner Sehnsucht: Roman (German Edition)
der für die Reederei arbeitet?«
Cavendish nickte. »Ja. Ich habe ihn gefunden.«
»Und?«
Cavendish atmete heftig aus. »Es war Gabriel Ventnor, ich bin ganz sicher«, räumte er ein. »Er ist das absolute Abbild seines verstorbenen Vaters. Die Größe. Die blonden Haare und die hellen Augen. Ich bin überzeugt, dass wir den richtigen Mann gefunden haben.«
Die Duchess blieb gleichmütig. »Dann wäre es also vollbracht. Wann können wir ihn auf Selsdon erwarten?«
Cavendish zögerte. »Ich bin mir nicht sicher, Ma’am«, gestand er. »Er schien ... an unseren Neuigkeiten nicht besonders interessiert zu sein.«
»Nicht besonders interessiert?«, wiederholte die Duchess tonlos.
Der Anwalt hüstelte verlegen. »Ich fürchte, er ist nicht einfach nur irgendein Hafenarbeiter oder Büroangestellter. Genau genommen ist er Miteigentümer der Reederei. Er sah ... nun, er sah recht wohlhabend aus und war in der Tat genauso eigensinnig.«
Ihr Lächeln war schwach. »Wohl kaum der arme Waisenknabe, den Ihr erwartet hattet.«
»Nein.« Cavendishs Stimme klang säuerlich. »Und ich bin mir nicht ganz sicher, ob er sein Glück, den Titel geerbt zu haben, schon begriffen hat. Ich bin nicht einmal sicher, ob oder wann er geruhen wird, nach Selsdon Court zurückzukehren, Ma’am. Er ist mir seine Antwort schuldig geblieben.«
Auch die Duchess blieb auf diese Neuigkeit hin stumm. Stattdessen betrachtete sie die Rose, die sie noch immer umklammert hielt. Die Blütenblätter schimmerten blutrot gegen ihre Haut. Blutrot. Gegen tödliche Blässe. Wie Fleisch, aus dem jegliches Leben gewichen war – und dennoch lebte sie noch. Einen langen Augenblick sann sie über die verschlungenen Pfade des Schicksals nach. Dachte an den Tod und an das, was er anrichtete. An das, was er unumkehrbar veränderte.
Was machte es aus, ob dieser Mann nach Selsdon Court kam oder nicht? Was würde es ändern? Was konnten seine Macht und sein Stolz ihr schon antun, was ihr Leben noch unerträglicher machen würde, als es ohnehin schon war? Die Tage vergingen in dem schweigenden Vergessen, in dem sie bereits in den zurückliegenden vier Jahren vergangen waren. Vielleicht waren es sogar schon fünf. Sie war sich nicht sicher, zählte sie nicht mehr.
Gabriel Ventnor. Alle glaubten, er hielte ihr Schicksal in seinen Händen. Doch es bedeutete ihr nichts. Er konnte sie weder verletzen noch quälen, denn sie fühlte keinen irdischen Schmerz mehr.
»Euer Gnaden?«
Als sie aufschaute, hielt Cavendish einen eindringlichen Blick auf sie gerichtet. Ihr wurde bewusst, dass sie sich in ihren Gedanken verloren hatte. »Ich – ich bitte um Verzeihung, Cavendish. Was habt Ihr gesagt?«
Der Anwalt runzelte die Stirn, trat zögernd näher und löste ihren Griff um die Rose. »Euer Gnaden, Ihr habt euch wieder geschnitten«, tadelte er sie und zog sanft zwei Dornen aus ihrer Handfläche. Einer davon hatte ziemlich tief gesessen, sodass ein Blutstropfen aus ihrer Haut quoll. Er nahm sein Taschentuch und presste es auf die Wunde. »Macht eine Faust um das Tuch«, wies er sie an.
»Es ist doch nur Blut, Cavendish«, murmelte sie.
Er legte die Rose in den leeren Korb. »Kommt, Euer Gnaden, wir müssen jetzt ins Haus gehen«, sagte er und nahm sie sanft am Arm.
»Aber meine Rosen!«, protestierte sie. »Ich bin noch nicht fertig.«
Cavendish gab nicht nach. »Ma’am, es hat zu regnen begonnen«, sagte er und führte sie in Richtung Terrasse. »Eigentlich regnet es bereits seit einer ganzen Weile.«
Die Duchess schaute auf. Regentropfen fielen auf die Gartenmauer, spritzten auf. Die Ärmel ihres Kleides waren bereits feucht – ein weiteres irdisches Unbehagen, das sie nicht mehr wahrnahm.
»Wollt Ihr denn wieder krank werden, Ma’am?«, drängte Cavendish. »Wozu wäre das denn gut?«
»Zu nichts, vermutlich.« Die Worte klangen heiser und zittrig.
»Genau, stattdessen würde es Nellies Leben noch schwieriger machen«, sagte Cavendish, »denn ihr würde die Last zufallen, euch zu pflegen.«
Die Duchess blieb abrupt auf dem Gartenweg stehen. »Ihr habt ganz recht, Cavendish«, sagte sie und sah ihn jetzt direkt an. »Und wie ich immer schon gesagt habe, hasse ich es – mehr als alles andere –, eine Last zu sein. Für jeden.«
Am darauffolgenden Nachmittag entledigte sich Baron Rothewell am Berkeley Square seiner feinen Lederslipper und schenkte sich ein großes Glas Brandy ein – genug, um einem weniger gestandenen Mann die Besinnung zu rauben.
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