Verloren in deiner Sehnsucht: Roman (German Edition)
sturmzerrissenen Sturzbächen niederzugehen. Großer Gott, wir können jetzt keinen Regen gebrauchen, dachte er, die Zeit der Ernte nähert sich.
Rastlos verließ Gareth sein Bett, warf sich seinen Morgenrock über und entzündete die Lampe neben seinem Lesesessel. Er griff nach einem von Watsons landwirtschaftlichen Magazinen und blätterte es durch. Einiges, was darin geschrieben stand, machte inzwischen tatsächlich Sinn für ihn. Ich gewöhne mich langsam an die neue Situation, dachte er, an dieses Geschäft mit dem Säen, Wachsen und Ernten.
Auch wenn er nicht nach Selsdon hatte zurückkehren wollen und sich vielen seiner Dämonen noch nicht gestellt hatte, so hatte Gareth doch die Bedeutung des Ortes zu schätzen begonnen. Er hatte angenommen, sein Aufenthalt hier würde nur von kurzer Dauer sein, aber jetzt war er sich dessen nicht mehr sicher. Der Besitz brauchte eine Leitung, und Gareth war stolz auf seine Fähigkeit, alles zu verstehen und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Er war stolz auf Selsdon. Die Arbeit war vielleicht nicht so materiell, wie wenn man Schiffe und Waren um die Welt schickte, trotzdem unterschied sich die Verwaltung eines so großen Besitzes gar nicht so sehr davon, eine Reederei zu leiten.
Mr. Watson war über Gareth’ zupackende Herangehensweise und seinen problemlosen Umgang mit der Buchführung überrascht gewesen. Warneham hatte nicht mehr getan, als pflügen und Saat in den Boden einbringen zu lassen, damit die Erlöse weiterhin flossen. Langfristige Maßnahmen wie etwa Knollwood hatte er jahrzehntelang vernachlässigt – abgesehen von der Dreschmaschine, auf deren Anschaffung allerdings Watson gedrängt hatte. Gareth’ Ärger über Warneham wuchs, als ihm klar wurde, was alles erreicht werden könnte, wenn das Gut wie das Geschäftskapital behandelt werden würde, das es war.
Dennoch konnte Watsons landwirtschaftliches Magazin Gareth nicht lange fesseln. Er war mit seinen Gedanken woanders. Auf dem Saumpfad nach Knollwood, in dem kleinen Pavillon am See. Als er sich heute mit Antonia unterhalten hatte, hatte es ihn erschreckt, als er bemerkte, welchen Zorn er noch in sich trug. Die brodelnde Verbitterung, die er für Warneham hegte. Ihm war ein Teil seiner Jugend genommen, seiner Großmutter höchstwahrscheinlich das Leben verkürzt worden, und zwar von einem egoistischen, rachsüchtigen Mann. Einem Mann ohne Rückgrat, der seine Freunde und Familie angelogen und die Wahrheit über das verschwiegen hatte, was er getan hatte.
Wenn Gareth jetzt die Augen schloss, versetzte ihn das Geräusch des Regens in sein Leben zurück, das er auf See geführt hatte. Er roch den Dreck, die Hitze und den Schweiß der lüsternen, ungewaschenen Männer. Er erinnerte sich daran, wie der Hunger sich angefühlt hatte und wie dankbar er gewesen war, etwas zu essen, das so ranzig und voller Maden war, dass es für den menschlichen Verzehr eigentlich nicht mehr geeignet gewesen war. Die Stürme waren so heftig gewesen, dass sie einen gestandenen Mann dazu bringen konnten, sich einen schnellen Tod zu wünschen. Aus Sehnsucht nach seiner Großmutter und seinem alten Leben in London hatte er wie das Kind geweint, das er damals gewesen war. Er hatte sich nach einem Leben unter Menschen gesehnt, denen er vertraut und die er verstanden hatte. Würde sein Großvater noch leben, wäre Gareth vermutlich inzwischen ein wohlhabender Kaufmann oder Juwelier. Vielleicht sogar ein Geldverleiher. Alle, auch Letzterer, waren in Gareth’ Augen ehrenhafte Berufe.
Passend zu seinen Gedanken grollte ein weiterer Donnerschlag sehr nah über das Haus hinweg. Unfähig, sitzen zu bleiben, trat er ans Fenster und schaute zur Festungsmauer hinüber. Er wollte sich nur vergewissern. Er musste nicht lange auf den nächsten Blitz warten, und heute Abend wusste er, wonach – oder nach wem – er Ausschau hielt. Der Wehrgang lag verlassen da, Gott sei Dank.
Aber das hieß nicht zwangsläufig, dass Antonia keine Angst hatte. Er kannte ihre Gewohnheiten nicht. Während er hier stand, die Hand gegen das kalte Fensterglas presste, wanderte sie vielleicht in dem traumähnlichen Zustand zwischen Wachen und Schlafen gefangen durch das Haus und trauerte um ihre Kinder. Und heute Nacht wäre keine Mrs. Waters zur Stelle, um ihr beizustehen, denn die lag vermutlich mit einem Wickel um den Hals und ruhiggestellt durch Dr. Osbornes berüchtigtes Laudanum in ihrem Bett im Dienstbotentrakt.
Gareth verließ seinen Platz am Fenster
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