Verloren in deiner Sehnsucht: Roman (German Edition)
Gareth band sein Pferd an einem Zaunpfahl fest, ging dann die Stufen hinauf und zog am Glockenstrang. Ein Hausmädchen, schwarz gekleidet und mit gestärkter weißer Schürze, öffnete, knickste ehrfürchtig und führte ihn sogleich in einen sonnigen, im Vorderhaus gelegenen Salon. Fünf Minuten später betrat Dr. Osborne mit besorgter Miene das Zimmer. »Euer Gnaden.« Er verbeugte sich flüchtig. »Was ist geschehen?«
Gareth erhob sich. »Geschehen? Nichts, so will ich hoffen. Warum?«
Osborne bedeutete ihm, wieder Platz zu nehmen. »Ach, ich weiß es nicht«, sagte er müde. »Vermutlich rechne ich schon mit schlechten Nachrichten, wenn jemand aus Selsdon hier unerwartet auftaucht.«
Er dachte zweifellos an Warnehams Tod. Gareth versuchte ein Lächeln. »Nein, heute warte ich mit keiner Tragödie auf«, sagte er. »Ich wollte Euch nur ein paar Fragen zu den Leuten auf Selsdon stellen.«
»Den Leuten?« Osborne betrachtete Gareth abwartend, ehe er ihm gegenüber Platz nahm. »Dem Personal, meint Ihr?«
»Ja, zu dem Personal«, bestätigte Gareth. »Eigentlich zu jedem von ihnen. Ihr seid der einzige Arzt hier, richtig?«
»Das bin ich«, bestätigte Osborne. »Gibt es jemanden, um den Ihr euch besonders sorgt?«
Gareth stützte die Ellbogen auf die Stuhllehnen und beugte sich vor. »Ich trage für jeden einzelnen Sorge«, sagte er. »Sie sind Teil der Verantwortung, die ich geerbt habe, ob es mir gefällt oder nicht. Aber ja, über einige mache ich mir mehr Gedanken als über andere. Über Mrs. Musbury zum Beispiel.«
»Ah ja.« Der Doktor legte nachdenklich die Fingerspitzen aneinander. »Mrs. Musbury – eine hart arbeitende Frau, aber um diese Jahreszeit leidet sie immer unter einem chronischen Husten.«
»Die Duchess sagte mir, Mrs. Musbury habe eine schwache Lunge.«
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Oh, das bezweifle ich«, erwiderte er. »Es ist ein Ritual, das sich alljährlich wiederholt. Der Husten beginnt im August und verschwindet nach dem ersten strengen Frost. Beginnt die Adventszeit, so ist Mrs. Musbury wieder munter und wohlauf.«
»Die Duchess hat also mit der Schwere der Erkrankung übertrieben?«
Der Doktor bewegte die Schultern, als trüge er einen zu engen Mantel. »Nun, die Duchess ist sehr mitfühlend«, sagte er schließlich, »und kennt Mrs. Musbury nicht annähernd so lange wie ich.«
Gareth sah ihn einen Moment lang abschätzend an. »Der Duchess scheint es manchmal nicht gut zu gehen«, bemerkte er dann. »Ich konnte vergangenen Montag nicht umhin, Eure Besorgnis um sie zu bemerken.«
Osborne wirkte plötzlich distanziert. »Es ist wahr, dass die Duchess nicht vollkommen gesund ist«, erwiderte er. »Sie ist eine zarte und eher ruhelose Seele. Und manchmal ist sie ... nun ja, etwas geistesabwesend.«
»Sie tagträumt? Ist überspannt?«
Wieder schüttelte der Arzt den Kopf. »Es ist mehr als das«, räumte er widerstrebend ein. »Sie schlafwandelt auch. Nellie, ihre Zofe, muss ständig auf der Hut sein, und gelegentlich muss die Duchess ruhiggestellt werden. Ihr Fall ist höchst komplex – eine Form der Hysterie, wenn ich offen zu Euch sein kann.«
Wieder beugte sich Gareth auf seinem Stuhl vor. Eigentlich wollte er nicht weiter nachbohren, konnte der Versuchung aber nicht widerstehen. »Dr. Osborne, ich muss Euch etwas in strengster Vertraulichkeit fragen«, sagte er ruhig. »Etwas, das seltsam klingen mag.«
Der Arzt lächelte grimmig. »Nur wenige Fragen haben das Potenzial, einen Arzt zu schockieren, Euer Gnaden«, sagte er. »Aber lasst uns zuerst einen Tee zu uns nehmen. Eine kleine Stärkung dürfte angebracht sein.«
Er stand auf und klingelte. Sie unterhielten sich über das Wetter, bis das schwarz gekleidete Hausmädchen mit einem großen, reich verzierten Tablett eintrat, das mit jedem auf Selsdon mithalten konnte. Danach brachte sie einen Teller mit dünnen Sandwiches. Gareth’ Magen knurrte bei dem Anblick. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er wieder einmal vergessen hatte, zu Mittag zu essen – das dritte Mal an ebenso vielen Tage n.
Der Doktor schenkte Tee ein und bot ihm dann Sandwiches an. »Nun kann ich es nicht länger hinauszögern, nicht wahr?«, sagte er. »Ihr wünscht, mich etwas über die Duchess zu fragen.«
Gareth schwieg einen Moment und legte sich seine Worte sorgfältig zurecht. »Ja, etwas von persönlicher Natur.«
Osborne wirkte gleichmütig. »Das dachte ich mir. Nur zu.«
»Was ich wissen möchte, ist«, Gareth überlegte,
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