Verloren unter 100 Freunden
Terminen vollgestopftes, durch die Netzwerke erst möglich gewordenes Leben. Und nun sollen Netzwerke uns vor Einsamkeit schützen, selbst wenn wir mit ihnen die Intensität unserer Verbundenheit kontrollieren. Die Konnektivitätstechnologie ermöglicht es uns, zu jedem gewünschten Zeitpunkt zu kommunizieren und die Kommunikation jederzeit zu beenden.
Vor einigen Jahren habe ich bei einer Dinnerparty in Paris Ellen kennen gelernt, eine elegante junge Frau von Anfang dreißig, die von ihrem Traumjob bei einer Werbeagentur begeistert war. Zwei Mal in der Woche rief sie mit Skype, einem Internet-Dienst, der wie ein Telefon mit Webkamera funktioniert, ihre Großmutter in Philadelphia
an. Bevor es Skype gab, waren Ellens Anrufe bei der Großmutter selten, kurz und teuer. Mit Skype sind sie nahezu kostenfrei, und man hat beinahe das Gefühl, der anderen Person gegenüberzusitzen – Skype ist fast eine Echtzeit-Videoverbindung. Nun konnte Ellen die Großmutter also öfter anrufen: »Zwei Mal in der Woche, und wir reden jedes Mal eine Stunde miteinander«, erzählte sie mir. Eigentlich hätte damit alles gut sein müssen, aber als ich Ellen traf, war sie unzufrieden. Sie wusste, dass ihre Großmutter nicht ahnte, dass Skype ihrer Enkelin heimliches Multitasking ermöglichte. Die Großmutter konnte zwar Ellens Gesicht sehen, aber nicht ihre Hände. Ellen gestand mir: »Während der Telefonate erledige ich meine E-Mails. Ich folge dem Gespräch eigentlich gar nicht richtig.«
Ellens Multitasking versetzte sie an einen anderen Ort. Sie hatte das Gefühl, ihre Großmutter würde mit jemandem sprechen, der eigentlich gar nicht anwesend war. Während ihrer Skype-Unterhaltungen waren Ellen und ihre Großmutter umfassender miteinander verbunden als jemals zuvor, aber gleichzeitig waren sie beide allein. Ellen hatte ein schlechtes Gewissen und war verwirrt: Sie wusste, dass ihre Großmutter glücklich war, obwohl die Nähe für Ellen nur eine von mehreren Aufgaben war, die sie gleichzeitig erledigte.
Diese besondere Form der Verwirrung habe ich oft beobachtet: Heutzutage können Menschen, egal ob sie online sind oder nicht, leicht in Verunsicherung darüber geraten, ob sie enger miteinander verbunden oder noch weiter voneinander getrennt sind. Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Orientierungslosigkeit, als mir das erste Mal klar wurde, dass ich »gemeinsam einsam« war. Ich hatte eine anstrengende Sechsunddreißig-Stunden-Reise nach Zentraljapan hinter mir, um eine Tagung über fortschrittliche RoboterTechnologie zu besuchen. Der große Saal war mit einem für alle Tagungsteilnehmer zugänglichen Wi-Fi-Anschluss ausgestattet: Der
Redner verwendete für seine Präsentation das Internet, die Zuhörer hatten ihre Laptops vor sich stehen, die Finger flogen über die Tastaturen, es herrschte eine Atmosphäre von höchster Konzentration und Intensität. Aber die meisten »Zuhörer« hörten dem Redner gar nicht zu, vielmehr schienen sie E-Mails zu schreiben, Daten herunterzuladen und im Netz zu surfen. Mein Sitznachbar suchte nach einem New Yorker -Cartoon, um seine bevorstehende Präsentation zu illustrieren. Ab und an schenkten einzelne Zuhörer dem Redner ein bisschen Aufmerksamkeit, klappten, um den Anstand zu wahren, ihre Laptop-Monitore ein Stück herunter und hörten kurz zu.
Die Leute, die draußen auf den Gängen herumschwirrten, blickten an mir vorbei auf virtuelle andere Personen. Sie waren mit ihren Laptops und Smartphones beschäftigt, die sie mit anderen Tagungsteilnehmern oder mit Menschen auf der anderen Seite des Erdballs verbanden. Anwesenheit, ohne anwesend zu sein. Natürlich standen auch Leute in Grüppchen zusammen und sprachen miteinander, verabredeten sich zum Abendessen oder auf einen Kaffee, »vernetzten« sich im althergebrachten Sinne des Wortes. Aber bei der Tagung wurde offenkundig, dass Menschen sich in öffentlichen Räumen vor allem wünschen, mit ihren persönlichen Netzwerken allein zu sein. Es ist gut, physisch zusammenzutreffen, aber wichtiger ist, mit unseren Geräten verbunden zu bleiben. Ich dachte daran, dass Sigmund Freud die Kraft der Gemeinschaft als etwas betrachtete, was uns zu formen und zu zerstören vermag, und dadurch kam ich auf ein kleines Wortspiel, das den Internet-Jargon und den psychoanalytischen Ansatz miteinander verbindet: »Eingeschränkte Konnektivität«.
Einige Monate später fällt mir dieser Ausdruck wieder ein bei einer Befragung von Managementberatern, die,
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