Verloren unter 100 Freunden
1994 (deutsch 2004): Descartes’ Irrtum . 10 Damasio beharrt darauf, dass es keinen Körper/Geist-Dualismus gibt, keine Spaltung von Denken und Fühlen. Wenn wir eine Entscheidung treffen müssen, wird unsere Entscheidungsfindung von Hirnprozessen geleitet, die der Körper auslöst, indem wir uns an Angenehmes und Schmerzliches erinnern. Dies kann man als Argument dafür heranziehen, warum Roboter niemals eine menschenartige Intelligenz
haben werden: Sie haben weder ein körperliches noch ein emotionales Empfinden. Heutzutage nehmen Roboter-Konstrukteure wie Brooks diese Herausforderung an. Sie räumen ein, dass für Intelligenz tatsächlich ein Körper und Emotionen nötig sein könnten, aber sie beharren darauf, dass es kein menschlicher Körper sein müsse. Im Jahr 2005 war Brooks derjenige, an den Lindman sich wandte, als sie ihren Körper und Geist mit einer Maschine verbinden wollte.
Ein Vorläufer von Lindmans Arbeit mit Robotern war ihr Trauer-Projekt von 2004. Sie wählte aus der New York Times Fotos trauernder Menschen aus – zum Beispiel eine über ihr totes Kind gebeugte Mutter sowie einen Ehemann, der erfährt, dass seine Frau bei einem Terroranschlag ums Leben gekommen ist. Danach fertigte sie skizzenhafte Zeichnungen von mehreren hundert der Fotos an und setzte dabei sich selbst an die Stelle der Trauernden. Dann ahmte sie die Szenen nach, wobei sie ihren Körper exakt in die Positionen der fotografierten Menschen brachte und deren Gesichtsausdruck aufsetzte. Lindman sagt, währenddessen habe sie ganz deutlich die Trauer dieser Menschen gespürt. Dafür ist die Biologie verantwortlich. Ein Lächeln oder Stirnrunzeln setzt Botenstoffe frei, die sich auf den Gemütszustand auswirken. 11 Und bei Menschen feuern die »Spiegelneuronen« sowohl, wenn wir andere Personen agieren sehen, als auch, wenn wir selbst agieren. Unser Körper findet einen Weg, uns emotional in das zu verwickeln, was wir sehen. 12 Nach dem Trauer-Projekt wollte Lindman den Zusammenhang von Körperlichkeit und Emotion weiter erforschen und begann, mit Maschinen zu arbeiten, die Körper besaßen. Der Methodologie des vorherigen Projekts folgend, tat sie sich mit Edsinger zusammen, filmte seine Interaktionen mit Domo, fertigte Skizzen an und lernte, sich in die beiden hineinzufühlen. 13
Ihre Arbeiten zeigen deutlich Edsingers freudige Überraschung,
als Domo etwas Unerwartetes tut; seine Freude, als er Domos Hand herunterdrückt, damit der Roboter eine Aufgabe nicht erfüllen kann, und Domo sich scheinbar dagegen wehrt; die Freude in dem Moment, als Domo eine Aufgabe meistert und sich »Lob heischend« zu ihm umdreht. Durch diese geistige Verschmelzung hoffte Lindman, die Kluft zwischen Mensch und Maschine zu fühlen. Am Ende erschuf sie ein Kunstwerk, das die Frage des Begehrens anspricht und ihr gleichzeitig ausweicht.
Im Frühjahr 2006 präsentierte Lindman in einer MIT-Galerie die Resultate ihrer Arbeit mit Edsinger und Domo. Sie hängte vierunddreißig Zeichnungen von sich selbst und dem Roboter auf. In einigen der Zeichnungen hat sie Domos ausdrucksloses Gesicht im abgeschalteten Zustand und sieht aus wie eine Maschine; in anderen hat sie Domo in Momenten intensiver Beschäftigung eingefangen, und er sieht aus wie ein Mensch. In den Zeichnungen scheinen Domo und Lindman sich gleich wohlzufühlen in den Rollen von Mensch und Maschine; sie scheinen sich wohlzufühlen dabei, der andere zu sein.
Die eigentliche Performance begann mit einem Film über Edsinger und Domo bei der Arbeit. Sie interagieren mit elegant-sparsamen Gesten. Die beiden kennen sich offensichtlich sehr gut. Sie scheinen aufeinander einzugehen, sich umeinander zu kümmern. Nach dem Film folgte auf einer Bühne Lindmans Auftritt als Domo. Sie trug einen grauen Overall, das Haar war straff zu einem Knoten zurückgebunden. Binnen weniger Minuten vergaß ich die Frau und sah nur noch die Maschine. Und dann spielte Lindman beide Parts: Mensch und Maschine. Diesmal sah ich binnen Minuten zwei Menschen. Und dann, als die Gestalt am Boden lag, sah ich zwei Maschinen, zwei sehr liebevolle Maschinen. Oder waren es zwei Maschinen, die womöglich zu liebevoll waren? Neben mir saß ein Kollege, der es genau andersherum sah, erst zwei Maschinen und dann
zwei Menschen. Wie auch immer, Lindman hatte gezeigt, was sie sagen will: Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine lösen sich auf. Was, wenn diese Grenzen erhaltenswert sind?
Später habe ich Lindman persönlich kennen
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