Verlorene Eier
mir führt? Schon möglich. Aber zumindest hätte ich erwartet, dass der picklige Herbert mir einen Stapel Angebotsbroschüren für Anlagevermögen in die Hand drückt. Schließlich kommt es wohl nicht jeden Tag vor, dass knapp zweihundertfünfzigtausend Pfund auf einem Konto in seiner Filiale eingehen. Jedenfalls ist es die mit Abstand größte Summe, die ich je in meinem Leben verdient habe, doch den Angestellten auf der Bank scheint das völlig am Arsch vorbeizugehen.
Als ich ein Abhebungsformular über fünftausend Pfund ausfülle, fragt die Dame hinter der Glasscheibe nur, ob sie es in einen Umschlag stecken soll.
»Das wäre zu freundlich von Ihnen«, sage ich. Aber mein triefender Sarkasmus geht völlig an ihr vorbei.
Und, oh Wunder – so erstaunlich, dass ich sogar lateinische Worte dafür bemühen muss. Mirabile dictu: Die Werkstatt des Schusters hat geöffnet.
»Geht es Ihnen besser?«, erkundige ich mich.
»Nicht hundertprozentig«, antwortet er und zuckt vor Schmerz zusammen.
Triumphierend halte ich ihm den rosa Abholzettel unter die Nase, den ich seit Monaten in meiner Brieftasche mit mir herumtrage. Er inspiziert ihn skeptisch, dann verschwindet er im Hinterzimmer. Eine halbe Minute vergeht, während ich die Gerüche und die typischen Anblicke einer Schuhreparatur(und Schlüsseldienst-)werkstatt auf mich wirken lasse.
Er kehrt kopfschüttelnd zurück. »Am Dienstag sind sie fertig.«
»Sie machen wohl Witze.«
Lange Pause. »Stimmt. Ich konnte nicht widerstehen. Tut mir leid.«
Die Schuhe sind zwar eine minimale Verbesserung zu den lila Kickers, doch selbst mit neuen Sohlen sind sie die Warterei definitiv nicht wert. Ich nehme sie mit und trage sie in den Oxfam-Laden ein Stück die Straße hinunter. In der Abteilung für gebrauchte Bücher entdecke ich eine Daphne-Ottershaw-Sammlung für fünfzig Pence das Stück. Wäre es möglich, dass mir das Studium des Werkes der einstigen Königin des historischen Liebesromans eine Idee liefert, die ich klauen … Verzeihung … die mir einen nötigen Katalysator liefert, um mein kleines Schreibflussproblem zu lösen? Ich kaufe den ganzen Stapel. Eine Unschuld in Montparnasse lautet der Titel eines Werks aus den Fünfzigern.
3
Tom Cutler faltet ein Paar Arbeitshosen, die dem Aussehen nach aus dem Zweiten Weltkrieg stammen, zusammen und wieder auseinander, als ich japsend vor seinem Haus zum Stehen komme. Im Großen und Ganzen sieht es hier aus wie sonst. Die einzigen Neuanschaffungen, die mir auf Anhieb auffallen, sind mehrere gebrauchte Bushaltestellenschilder aus der Konkursmasse einer Transportfirma sowie ein Einkaufswagen, in dem ein riesiger Plüschbär ohne Kopf sitzt.
Toms blaue Augen strahlen unter den dichten heckenartigen Brauen, als er auf mich zukommt. Mein Blick fällt auf die Frühlingszwiebel, die er sich wie einen Bleistift hinters Ohr geschoben hat.
»Als junger Mann hatte ich eine 36-er Länge«, erklärt er. »Die meisten von denen hatte ich nie an.«
»Tom. Diese Sache, über die wir neulich geredet haben … wegen des Hauses, meine ich.« Ich ziehe den Umschlag aus der Tasche. »Da drin ist genug Bargeld, um die Rate fürs erste Jahr zu bezahlen.«
In Toms Augen liegt dieser Ausdruck wachsender Ungläubigkeit, wie er immer in Büchern beschrieben wird, wenn ein Mensch stirbt.
Ich drücke ihm den Umschlag in die Hand. »Wir können es auch als Darlehen betrachten, wenn du unbedingt willst.«
Toms riesige knorrige Finger schließen sich um den Umschlag und betasten ihn wie ein Schneider ein Stück Stoff. Dann sieht er mir tief in die Augen und lässt ihn mit der Fingerfertigkeit eines Magiers in den Tiefen seines grauen Mantels verschwinden. »Einmal habe ich eine ganze Stange Geld gewonnen«, erklärt er. »Ein Typ aus Shrewsbury hat mir einen Tipp gegeben, ich soll jeden Penny, den ich besitze, auf einen bestimmten Gaul setzen. Es war das letzte Rennen in Sligo. Und der Gaul hieß Dan the Man. Er ist als Erster durchs Ziel gekommen, wie er vorhergesagt hat, und ich habe fast neuntausend Pfund gewonnen. Als der Typ in der nächsten Woche mit dem Gewinn kam, meinte er, das Rennen sei manipuliert gewesen. Jeder hätte es gewusst, meinte er. ›Dann kannst du das Geld behalten‹, habe ich zu ihm gesagt.« Tom lacht. »Er hat mich angesehen, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank, und meinte: ›Sieh’s einfach als verfrühtes Weihnachtsgeschenk, wenn du willst.‹ Und ich sagte zu ihm: ›Du kannst es sehen, wie du
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