Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verlorene Eier

Verlorene Eier

Titel: Verlorene Eier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Scarlett
Vom Netzwerk:
sich plötzlich eine wundersame Verwandlung zu vollziehen, die ich seitdem in dieser Gegend schon häufiger beobachtet habe. Typen, die mir auf den ersten Blick öde, einfach gestrickt oder schlicht schwachsinnig vorgekommen waren, entwickelten sich vielleicht nicht gerade zu faszinierenden und brillanten Zeitgenossen, zumindest aber zu einer amüsanten Gesellschaft, die ich bereitwillig für ein paar Stunden genoss. Der abgerissene Jüngling, den ich auf den ersten Blick als »minderbemittelte Saufnase« abgeschrieben hatte, entpuppte sich beispielsweise als erfolgreichster Ladendieb Oswestrys (eine lebende Legende, behauptete Caerwen). Hinter der Fassade des rotgesichtigen Kerls mit den zitternden Händen (der sich mir als Bischof von Gobowen vorstellte) verbarg sich ein wahres Füllhorn an schmutzigsten Witzen, die man sich nur vorstellen kann. Und auch Caerwen legte echtes Talent für Obszönitäten an den Tag.
    »Was vögelt wie ein Tiger und zwinkert?« Als ich keine Antwort darauf wusste, sah sie mich nur an … und zwinkerte.
    Nachdem die Kneipe geschlossen hatte, schlurften wir zum Straßenchinesen und stellten uns in der Schlange an. Ich blickte zu der von gleißendem Neonlicht erhellten Speisekarte hoch.
    »Was kannst du empfehlen?«, fragte ich sie, als säßen wir an einem lauschigen Zweiertisch im Savoy.
    »Glasierte Spareribs und Garnelen süß-sauer. Wenn du später kotzen musst, ist alles so hübsch orange.«
    Nach einem taumelnden fünfminütigen Fußmarsch saßen wir im Wohnzimmer ihres winzigen Reihenhauses und verschlangen unser Essen, während wir uns im Fernsehen den Spätfilm ansahen, Hexenjäger mit Vincent Price. Ich fühlte mich wieder wie ein Student. Danach holte sie eine Flasche spanischen Brandy aus dem Schrank und legte eine Elvis- CD ein.
    »Ich liebe diesen Typen, verdammt noch mal!«, schrie sie und begann, Good Luck Charm zu schmettern, inklusive Verrenkungen. Und ich? Legte ich meine Version von Are You Lonesome Tonight (einschließlich Monolog) hin?
    Ich fürchte, ja.
    Habe ich versucht, sie auf dem Sofa flachzulegen? Oder war es umgekehrt? Ich erinnere mich dunkel an irgendwelche Fummeleien. An üppige Brüste, die sich an mich pressten, Lippen auf meinem Mund, und dann Dunkelheit.
    Ich wachte auf Caerwens Sofa auf, vollständig bekleidet unter der Decke. Zum Glück war der Plastikeimer, den sie vorsichtshalber neben mich gestellt hatte, leer. Tageslicht drang durch den Spalt zwischen den Vorhängen herein. Ich hörte das Rauschen des Regens. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte er kürzlich Bekanntschaft mit einem Kricketschläger gemacht.
    Als ich die Kraft aufbrachte, mich in die Vertikale zu hieven, bemerkte ich den Zettel, der an der leeren Brandyflasche lehnte. Bin bei der Arbeit. Kaffee steht im Küchenschrank. Brot liegt im Kühlschrank. Schmerztabletten oben im Bad. Spitzenmäßiger Abend. Kuss, C.
    Selbst nach dem Kaffee, Toast und der Maximaldosis eines starken Mittels gegen Sodbrennen, das ich im Badezimmerschränkchen gefunden hatte, konnte ich die tiefe Traurigkeit nicht abschütteln, die tonnenschwer auf mir lastete. Das war also aus meinem Leben geworden. Ich war ganz allein mit einem Riesenkater im Haus einer wildfremden Frau, während der Rest der Welt brav seiner Arbeit nachging.
    Es war ein verregneter Dienstag Ende Februar. In der Ferne bellte ein Hund. Ein Auto fuhr vorbei. Ich hörte, wie der Briefkasten klapperte. Mehrere Briefumschläge und Werbebroschüren fielen auf den Teppich, die der Postbote eingeworfen hatte. Ich hatte auch kurz seine Finger gesehen.
    Stille legte sich wieder übers Haus. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten.
    Obwohl ich wusste, dass sie im Krankenhaus war und Leute zusammenflickte, hörte ich ihre Stimme. »Heul dich mal so richtig aus, mein Hübscher. Lass alles raus, dann fühlst du dich gleich besser.«
    Das war er also, der absolute Tiefpunkt. Die Talsohle. Ich flennte wie ein Baby. Zumindest hätte Caerwen es so ausgedrückt. Um meine verlorene Frau. Um mein verlorenes Leben. Weil ich in einem komatösen Kaff in Shropshire festsaß, fernab von dem winzigsten Fünkchen Glück und Zufriedenheit. Weil ich mich wie ein erwachsener Mann benehmen sollte, es aber offenbar nicht auf die Reihe kriegte. Weil ich alles an die Wand gefahren hatte, absolut alles. Weil ich die Finger des Briefträgers gesehen hatte (zutiefst beunruhigend, mit welcher Beharrlichkeit sie versucht hatten, all diese Flugblätter von

Weitere Kostenlose Bücher