Verlorene Eier
Pizzalieferfirmen durch den Schlitz zu stopfen).
Mein Ausbruch hatte etwas seltsam Befriedigendes. Soweit ich weiß, enthalten Tränen irgendein Enzym, ein Hoffnungslosigkeitshormon, das aus dem Körper geschwemmt wird, sobald man in Tränen ausbricht, und dafür sorgt, dass man sich sofort danach besser fühlt. Ich wischte mir die Tränen ab und griff nach dem Taschenbuch, das neben Caerwens Sofa auf dem Boden lag. Es war eine Liebesschnulze, wie man sie neben den Zeitschriftenregalen im Supermarkt findet, mit lila Umschlag und irgendeinem schwülstigen Titel. Ich kann mich ebenso wenig daran erinnern wie an den Autor oder an die Handlung. Das Einzige, was ich noch weiß, ist, dass es im viktorianischen London spielte. Allerdings erinnere ich mich noch sehr genau – wie könnte ich das vergessen? – an die ersten Zeilen:
Ich liebe ihn. Ich habe ihn immer geliebt. Wie sehr ich mir wünsche, all die törichten Dinge ungeschehen zu machen, die zwischen uns vorgefallen sind. Aber ich fürchte, dass es zu spät ist. Dass wir den Rest unseres Lebens getrennt und – in meinem Fall – allein verbringen müssen.
Die kleinen schwarzen Buchstaben schienen sich vom Papier zu lösen, durch meine Pupillen zu dringen und sich in meinem Gedächtnis festzusetzen. So viel zum Thema, einem Mann einen Tritt in den Magen verpassen, wenn er sowieso schon am Boden liegt. Während der folgenden Stunden wurde ich aus dem düsteren Wohnzimmer, dem verregneten Oswestry, ja, scheinbar sogar aus der Zeitrechnung selbst, herausgerissen und geradewegs in den Kampf zwischen den beiden Protagonisten (der reizenden, aufrichtigen, großherzigen Heldin und ihrem gut aussehenden, mürrischen und fernen Geliebten) katapultiert, die verzweifelt versuchten, sich durch ein Gewirr aus Missverständnissen, Irrungen und Verwirrungen zu lavieren, das ihr gemeinsames Glück unablässig zu gefährden drohte. Von der ersten Seite an war dem Leser sonnenklar, dass die beiden zusammengehörten: Sie sehnte sich nach diesem Typ, und er – trotz seiner ständigen miesen Laune (die Aura einer vergangenen Tragödie lastete wie ein düsterer Schatten auf ihm) – fühlte sich mit derselben Macht zu ihr hingezogen. Es brauchte nur jemanden, der ein paar lästige Hindernisse aus dem Weg räumte – harsche Worte im Zuge irgendwelcher Auseinandersetzungen, fiese logistische Probleme, Zweifel, Missverständnisse und dergleichen –, und schon könnten sie zusammen sein, wie die Karnickel in alle Ewigkeit rammeln und Hand in Hand in den Sonnenuntergang spazieren. Aber das ließ die Autorin nicht zu. Weit gefehlt. Sie – und es muss eine Sie gewesen sein – schien fest entschlossen zu sein, alles noch viel schlimmer zu machen. Wann immer es unserem Liebespaar gelang, eine Szene zu überstehen, die die leise Hoffnung aufkeimen ließ, dass am Ende doch noch die Liebe siegte, ging das Ganze gnadenlos den Bach runter. Jemand platzte ins Zimmer und ließ sie auseinanderfahren; oder sie sagte etwas Verkehrtes, das ihn an seine heimliche Tragödie denken ließ; oder aber sie täuschte sich im Hinblick auf seine Absichten. Kurz gesagt, das absolute Chaos. Erst als die Autorin die scheinbar endgültige Trennung herbeiführte und der jungen Heldin eine Reihe schmieriger Verehrer auf den Hals hetzte, die sich das arme Ding mit allen möglichen Mitteln vom Leib halten musste, und man dachte, es sei endgültig alles verloren, brachte sie die beiden in einem furiosen Finale zusammen, so dass sie in Liebe und Glück (einschließlich heftigem Austausch von Körperflüssigkeiten, was jedoch niemals explizit zur Sprache kam) vereint waren.
Ich gebe zu, nach dreihundertvierundzwanzig Seiten brach ich erneut in Tränen aus. Vor Rührung über das Happy End.
13
Ich glaube, ich setzte mich noch am selben Tag an meinen ersten Liebesroman. Es schockierte mich ein wenig, wie leicht die Worte aus mir herausquollen – die Geschichte des Marinekapitäns Bill Greefe und der schlichten, aufrichtigen Liebe zu der schönen, aber schwierigen Claire Robinson. Ich hatte Geschichte studiert und meine Abschlussarbeit über die Napoleonischen Kriege geschrieben. Deshalb lag es auf der Hand, diese Ära als Setting für meinen Roman zu wählen. Claire war die Tochter eines angesehenen Großgrundbesitzers und fühlte sich zu Captain Bills Geradlinigkeit und Heldenmut sehr hingezogen. Er hingegen liebte ihren Porzellanteint und die Aura der Tragödie, die sie wie ein Umhang umgab (und die von
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