Verlorene Eier
Anzug zu uns eilt – ihr Chauffeur, kein Zweifel.
»Reg, geben Sie dieser Dame hier eine Karte.«
Routiniert zieht Reg eine kleine rechteckige Visitenkarte aus der Brieftasche und reicht sie mir.
Ihre ehrenwerte Mrs Alice Abernethy. Eine Adresse am Manchester Square.
»Vielleicht möchten Sie mich ja im Laufe der Woche einmal zum Tee besuchen.«
Sie macht kehrt und geht in Richtung Kasse davon, während Reg und ich zurückbleiben.
»Mrs A. ist auf der Suche nach einer Gesellschafterin. Bitte entschuldigen Sie ihre Direktheit.«
»Das macht doch nichts. Es ist sehr schmeichelhaft.«
Und das ist keine Lüge.
12
Ich stehe ganz allein auf einer Straße in der Nähe der Paddington Station. Ein hagerer Junge mit einem Kapuzensweatshirt ist wie aus dem Nichts aufgetaucht und kommt geradewegs auf mich zu. Etwas an seiner Körpersprache verrät mir, dass er nichts Gutes im Schilde führt. Meine Finger schließen sich fester um den Gurt meiner Handtasche. Ich kann nur hoffen, dass er kein Messer dabeihat. Er bleibt vor mir stehen, so dicht, dass ich die Pickel auf seinen Wangen zählen kann.
»Lass einfach gut sein, Oma, dann tu ich dir nicht weh.«
Der Gestank nach Bier, Zigaretten und Chips schlägt mir entgegen. Seine grauen Augen flackern auf, als er sich hektisch nach der Polizei oder potenziellen Zeugen umsieht. Keiths Worte über Eier und den Vorteil, mehr als genug davon zu haben, kommen mir wieder in den Sinn.
»Wieso packst du nicht deinen jämmerlichen Arsch und verfrachtest ihn zurück in den beschissenen Slum, aus dem du gekommen bist, du mieser kleiner Wichser. Es sei denn, du willst, dass ich dir das Genick breche!«, knurre ich mit der tiefsten Männerstimme, die ich bewerkstelligen kann.
An die Verblüffung und die Angst auf seinen Zügen werde ich mich wohl noch in hundert Jahren erinnern. Und an das Tempo, mit dem er die Kurve kratzt.
Am Abend erzähle ich Keith von dem Vorfall. Er teilt meine Meinung, dass die »Oma« eindeutig die größte Unverschämtheit an der Sache war.
13
Daunt Books, Marylebone High Street.
Ich überlege gerade, ob ich mir Am Strand von Ian McEwan kaufen soll, der mir bislang irgendwie entgangen ist, als ich eine vertraute Stimme höre.
»Dachte ich mir doch, dass Sie es sind.«
»Oh, Lionel. Wie geht es Ihnen?«
»Man schlägt sich so durch. Was macht die Gicht Ihrer Schwester?«
»Nun ja, was soll ich sagen? Es gibt eben gute und schlechte Tage.«
»Was für ein glücklicher Zufall, Sie hier zu sehen. Der hier bringt mich schier um den Verstand. »Singsang mit Waschzwang. Zehn Buchstaben. Leer, E, leer, F, leer, N, O, leer, leer, R.«
Noch bevor er geendet hat, weiß ich die Lösung.
»Seifenoper.«
Stille. »Heiliges Kanonenrohr. Sie sind ja ein echtes Genie.« Das Ganze ist mir ein wenig peinlich. Die Leute starren uns schon an. »Los, ich lade Sie auf einen Sherry ein.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich treffe mich gleich mit …« Verflixt, jetzt habe ich auch noch den Namen meiner eigenen Schwester vergessen. »Mit … Marjorie vor der Royal Academy.«
»Sie treffen sich mit Marjorie?«
»Ja. Wieso? Habe ich etwa …?«
»Marjorie. Meine Frau.«
Verdammt. »Habe ich gerade Marjorie gesagt? Ich meinte meine Schwester.« Wie heißt meine Schwester, verdammt noch mal?
»Audrey?«
»Natürlich! Audrey. Ich treffe mich gleich vor der Royal Academy mit Audrey.« Ich sehe ihn an und bemerke den eigentümlichen Blick, mit dem er mich mustert. »Haben Sie das hier schon gelesen?«, frage ich schnell, um das Thema zu wechseln. »Er ist unglaublich gut. Ian McEwan.«
»Nie gehört. Aber wenn Sie es sagen, lese ich es gern.«
Mir fällt wieder ein, wovon der Roman handelt – es ist der überaus plastisch beschriebene Versuch eines frisch verheirateten Paars in den Fünfzigern, seine Hochzeitsnacht hinter sich zu bringen.
»Hm, könnte allerdings sein, dass das nicht ganz Ihr Ding ist, Lionel. McEwan ist nicht jedermanns Sache.«
»Wenn Sie sagen, dass der Bursche etwas taugt, ist mir das Empfehlung genug, Angela.«
»Ich drehe nur noch kurz eine Runde durch die Biografie-Abteilung.«
Daunt Books ist eine der wenigen Buchhandlungen mit einem zweiten Ausgang – ein Vorteil, den ich mir nun zunutze mache.
14
Meiner Schätzung nach habe ich rund hundert Stunden als Angela verbracht, habe mit Ladenbesitzern geplaudert und wildfremde Menschen nach dem Weg gefragt, obwohl ich ihn ganz genau kenne. Im Lauf der Zeit habe ich Gefallen an
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