Verlorene Eier
Köpfchen genauso viel übrig wie für ein hübsches Paar Beine« – bei diesen Worten hätte ich mich um ein Haar übergeben –, und es tut mir aus tiefster Seele leid, dass er in einem Umkreis von zehn Meilen ausgerechnet den einzigen Mann in Frauenkleidern aufgerissen hat. Im September wird er achtzig. Sein Name ist Lionel. Die Einsamkeit umgibt ihn wie ein unsichtbarer Mantel.
Aber eigentlich ist es nicht so schlimm. Er hat sich selbst bewiesen, dass noch ein Spritzer Saft in der Zitrone ist. Er hat sich für seine Einladung entschuldigt, als hätte er mich damit zutiefst beleidigt – »Aber mit Feigheit hat noch keiner das Herz einer schönen Frau gewonnen!« Und ich habe Gelegenheit, ein wenig Angela Huxtable zu üben. Ich habe ihm erzählt, ich sei aus Shropshire und würde meine Schwester hier besuchen, mir ein paar Ausstellungen ansehen, aber nicht zu viele, weil Audrey unter leichter Gicht leide. Dass ich auch einen Beruf haben könnte, ist ihm anscheinend nicht in den Sinn gekommen. Ich habe darauf geachtet, die Arme am Körper zu halten und nicht mit gespreizten Beinen auf der Bank zu sitzen. Beim Sprechen habe ich scheinbar geistesabwesend an meiner Perlenkette herumgefummelt, mir die Hand aufs Herz gepresst (wobei beide Gesten ein gebührendes Maß an Aufmerksamkeit auf meine »Fraulichkeit« lenkten) und nicht allzu ausschweifend gestikuliert. Colonel Mustard mag eine ganze Weile nicht mehr in engeren Kontakt mit Frauen gekommen sein, doch er scheint an meinem Auftreten nichts Ungewöhnliches zu finden. Ich kann es kaum erwarten, in Keiths Wohnung zurückzukehren und ihm von meinem Erfolg zu erzählen.
»Und gibt es einen Mister Huxtable, Angela?«, erkundigt er sich.
Ich weiß nicht, ob ich nicken oder den Kopf schütteln soll – wenn ich eine verlorene Liebe andeute, könnte er sich dadurch noch weiter ermutigt fühlen –, also wird es am Ende eine Mischung aus beidem.
»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen«, meine ich und erhebe mich unter einem neuerlichen Kanonenfeuer aus der Kniescheibenecke. Ich denke sogar daran, meinen Rock glattzustreichen.
»Darf ich Sie wiedersehen?« Die Art, wie er es sagt, hat etwas Herzzerreißendes.
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich bezweifle es. Ich fahre schon bald wieder nach Oswestry zurück.«
Seine ledrigen, altersknorrigen Finger schließen sich fest um meine Hand.
»Ich bin an den meisten Nachmittagen hier. Falls Sie es sich noch mal überlegen sollten.«
»Danke, Lionel.« Ich weiß nicht, ob ich lachen oder zusehen soll, dass ich schleunigst von hier wegkomme. »Viel Glück beim Rätseln.«
Ich registriere eine Bewegung unter meiner Kleidung. Dann ein feuchtes Platschen. Als ich zu Boden sehe, liegt die leise zitternde Hühnerbrust direkt vor meinen Füßen. Sie muss sich aus meinem BH gelöst haben, als Lionel meine Hand gedrückt hat.
Der Colonel ist völlig verdattert.
»Ach, herrje«, jammere ich. »Das muss mir aus der Handtasche gefallen sein. Für meinen Hund. Er liebt Hühnchen. Und ich verwöhne ihn nach Strich und Faden, fürchte ich.«
»Hundeliebhaberin, was?« Wenn ich ehrlich sein soll, sieht er nicht tausendprozentig überzeugt aus.
»Na ja, mittlerweile ist er schon sehr alt. Ich werde mir aber keinen mehr zulegen, wenn er eines Tages nicht mehr ist. Die Abschiede sind immer so schmerzlich.«
Habe ich damit einen Nerv getroffen? Die Augen des Colonel sehen leicht glasig aus. »Wie heißt er denn?«
»Wie er heißt? Äh … Keith.« Ich bin sehr stolz auf mich, weil es mir gelingt, meiner Stimme nicht durch Lautstärke, sondern durch Erhöhen der Tonlage Nachdruck zu verleihen.
»Keith. Ungewöhnlicher Name für einen Hund.«
»Na ja, was soll ich sagen? Er ist eben kein gewöhnlicher Hund.«
Ich bücke mich, hebe mein herausgefallenes Hühnerfilet auf – schon wieder dieses Knacken in den Knien – und verabschiede mich von meinem neuen Verehrer. Vielleicht ist es ja doch nicht ganz so gut gelaufen, wie ich dachte, denn als ich mich auf den Weg mache, liegt ein eigentümlicher Ausdruck auf seinem Gesicht. Am Tor drehe ich mich noch einmal zu ihm um. Sein silberner Kugelschreiber glitzert im Sonnenlicht.
10
Während der nächsten beiden Wochen werden der Regent’s Park und die Gegend um die Marylebone High Street zu meinem Transen-Trainingscamp; die letzte Station der endgültigen Verwandlung von Angela Huxtable in eine ernst zu nehmende Frau. Jeden Nachmittag verlasse ich Keiths Apartment, um mich ein
Weitere Kostenlose Bücher