Verlorene Illusionen (German Edition)
Artikel; die Zeitung hatte es für richtig gehalten, eine so treffliche Arbeit zu honorieren, um den Verfasser an sich zu ziehen. Als Coralie diese Journalistenversammlung sah, schickte sie nach dem ›Cadran bleu‹, dem nächsten Restaurant, um dort ein Dejeuner holen zu lassen; dann, als Berenice meldete, daß alles bereitstand, lud sie alle ein, in ihr schönes Speisezimmer hinüberzugehen. Als sie eine Weile bei Tische saßen und der Champagner ihnen zu Kopf gestiegen war, kam der Grund zu dem Besuch, den seine Kollegen Lucien machten, an den Tag.
»Du willst dir doch«, sagte Lousteau zu ihm, »Nathan nicht zum Feinde machen? Nathan ist Journalist, er hat Freunde, er könnte dir bei deinem ersten Buche einen schlimmen Streich spielen. Hast du nicht den ›Bogenschützen Karls IX.‹ zu verkaufen? Wir haben Nathan heute morgen gesehen, er ist in Verzweiflung; aber du mußt jetzt einen Artikel schreiben, in dem du ihn tüchtig herausstreichst.«
»Wie? Nach meinem Artikel gegen sein Buch wollt ...?«
Emile Blondet, Hector Merlin, Etienne Lousteau, Félicien Vernou unterbrachen allesamt Lucien mit lautem Gelächter.
»Hast du ihn nicht zu übermorgen zum Souper hierhergeladen?« fragte ihn Blondet.
»Dein Artikel«, sagte Lousteau zu ihm, »ist nicht gezeichnet. Félicien, der kein solcher Neuling ist wie du, hat nicht verfehlt, ein C. darunterzusetzen, mit dem du nun in Zukunft deine Artikel in seinem Blatt, das ausgesprochen zur Linken gehört, unterzeichnen kannst. Wir gehören alle zur Opposition. Félicien war zartfühlend genug, deine künftige Parteirichtung nicht festzulegen. In der Bude Hectors, dessen Blatt zum rechten Zentrum gehört, kannst du mit einem L. zeichnen. Beim Angriff ist man anonym, aber es sieht sehr gut aus, wenn man das Lob unterzeichnet.«
»Die Unterschriften stören mich nicht,« sagte Lucien; »aber ich weiß nichts zugunsten des Buches zu sagen.«
»Du denkst also so, wie du geschrieben hast?« fragte Hector Lucien.
»Ja.«
»Ach, mein Lieber,« sagte Blondet, »ich hielt dich für stärker! Wahrhaftig, mein Ehrenwort! Wenn ich deine Stirne ansah, dachte ich, du hättest eine Allmacht wie die großen Geister, die alle stark genug gebaut sind, um jedes Ding in seiner zwiefachen Gestalt zu sehen. Junger Freund, in der Literatur hat jede Idee ihre Vorderseite und ihre Rückseite: niemand kann mit Bestimmtheit sagen, welches ihre Vorderseite ist. Alles auf dem Gebiete des Gedankens hat zwei Seiten. Die Ideen sind paarig. Janus ist die mythische Gestalt der Kritik und das Symbol des Geistes. Nur Gott ist dreieckig! Was anders stellt Molière und Corneille so hoch über alle, als daß sie die Gabe besitzen, Alceste ›ja‹ und Philinte, Octave und Cinna ›nein‹ sagen zu lassen. Rousseau hat in seiner ›Neuen Heloise‹ einen Brief für und einen gegen das Duell geschrieben, wagst du es zu sagen, welches seine wahre Meinung war? Wer von uns kann zwischen Clarissa und Lovelace, zwischen Hektor und Achilles entscheiden? Welcher ist der Held Homers? Was war die Absicht Richardsons? Die Kritik muß die Werke von ihren sämtlichen Seiten betrachten. Kurz, wir sind große Berichterstatter.«
»Sie legen also Wert auf das, was Sie schreiben?« fragte ihn Vernou mit spöttischer Miene. »Aber wir treiben mit unsern Sätzen Handel und leben von diesem Geschäft. Wenn Sie ein großes, schönes Werk schreiben, ein Buch, dann können Sie Ihre Gedanken und Ihre Seele hineinlegen, sich damit verbunden fühlen und es verteidigen, aber Artikel werden heute gelesen und sind morgen vergessen; das Zeug ist in meinen Augen nicht mehr wert, als daß man es bezahlt. Wenn Sie auf solche Dummheiten Wert legen, dann bekreuzen Sie sich wohl und rufen den Heiligen Geist an, bevor Sie einen Prospekt schreiben!«
Alle schienen erstaunt, bei Lucien Skrupel zu finden, und es gelang ihnen schließlich, seine unschuldige Kindertoga in Stücke zu reißen und ihm das Mannesgewand des Journalisten anzuziehen.
»Weißt du, mit welchem Wort sich Nathan getröstet hat, nachdem er deinen Artikel gelesen hatte?« fragte Lousteau.
»Wie soll ich es wissen?«
»Nathan hat gerufen: ›Die kleinen Artikel sind vergänglich, die großen Werke bleiben!‹ Dieser Mann kommt in zwei Tagen hierher zum Souper, er muß vor dir niederfallen, deinen Fuß küssen und dir sagen, du seiest ein großer Mann.«
»Das wäre komisch«, rief Lucien.
»Komisch!« versetzte Blondet, »es ist nötig.«
»Liebe Freunde, ich will
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