Verlorene Illusionen (German Edition)
Lucien nicht hier wäre; beunruhige Dich über nichts und präge Deinem lieben Kopf den Satz ein: unsere Sicherheit beruht ganz und gar darauf, daß Deine Feinde nicht wissen können, wo Du bist. Leider kann ich zu Kolb, Marion und Basine mehr Vertrauen haben als zu meinem Bruder. Ach! mein Bruder Lucien ist nicht mehr der unschuldige und zarte Dichter, als den wir ihn früher gekannt haben! Gerade weil er sich in Deine Angelegenheiten einmischen will und sich einredet, er müsse unsere Schulden bezahlen – aus Stolz, mein David –, fürchte ich ihn. Er hat von Paris schöne Anzüge und fünf Goldstücke in einer schönen Börse bekommen. Er hat sie zu meiner Verfügung gestellt, und wir leben von diesem Geld. Wir haben endlich einen Feind weniger: Dein Vater hat uns verlassen, und wir verdanken seine Abreise Petit-Claud, der die Absichten Vater Séchards gemerkt und sie sofort vereitelt hat, indem er ihm gesagt hat, Du würdest nichts mehr ohne ihn tun; er, Petit-Claud, ließe Dich nichts von Deiner Entdeckung ohne vorhergehende Zahlung von dreißigtausend Franken abtreten: die ersten fünfzehntausend Franken, um Dich schuldenfrei zu machen, und weitere fünfzehntausend, die Du auf alle Fälle, ob die Sache Erfolg hätte oder nicht, bekommen solltest. Petit-Claud ist mir ein Rätsel. Ich umarme Dich, wie eine Frau ihren unglücklichen Mann umarmt. Unserem kleinen Lucien geht es gut. Es ist seltsam, zu sehen, wie diese Blume mitten in unserem häuslichen Unglück aufblüht und gedeiht! Meine Mutter betet für Dich wie immer und küßt Dich so zärtlich wie
Deine Eva.«
Petit-Claud und Cointet hatten sich, wie man sieht, da sie die Bauernschlauheit des alten Séchard fürchteten, seiner entledigt, und das war ihnen um so leichter gelungen, als die Weinlese ihn nach Marsac rief.
Der Brief Luciens, der dem Evas beigeschlossen war, lautete so:
»Lieber David!
Alles geht gut. Ich bin von Kopf bis zu Fuß gewappnet; heute beginne ich den Feldzug; in zwei Tagen werde ich viel erreicht haben. Mit welcher Freude werde ich Dich umarmen, wenn Du frei und nicht mehr wegen meiner Schulden verfolgt bist! Aber das Mißtrauen, das meine Schwester und meine Mutter mir noch immer entgegenbringen, kränkt mich tödlich. Weiß ich nicht schon, daß Du Dich bei Basine verbirgst? Jedesmal, wenn Basine ins Haus kommt, bekomme ich Nachricht von Dir und Deine Antwort auf meine Briefe. Es ist überdies klar, daß die Schwester sich auf niemand als auf ihre Arbeitskollegin verlassen konnte. Heute werde ich sehr nahe bei Dir und sehr betrübt sein, daß Du nicht an dem Fest teilnehmen kannst, das man mir gibt. Die Eitelkeit von Angoulême hat mir einen kleinen Triumph eingebracht, der in wenigen Tagen völlig vergessen sein wird: wärst Du dabei, wäre Deine Freude die einzig aufrichtige. Wie auch immer, noch wenige Tage, und Du verzeihst alles dem, der jedem Ruhm der Welt vorzieht zu sein
Dein Bruder Lucien.«
Davids Herz wurde von diesen beiden Kräften, so ungleich sie waren, hin und her gezogen: er betete seine Frau an, und seine Freundschaft für Lucien hatte sich um so viel verringert, als er ihn weniger achten konnte. Aber in der Einsamkeit verwandelt sich die Kraft der Gefühle. Wenn jemand allein ist und von Gefühlen und Gedanken so wie David bestürmt wird, dann gibt er Stimmungen nach, gegen die er im gewöhnlichen Gang des Lebens gefeit wäre. Als er daher den Brief Luciens las und dazu die Fanfaren dieses unerwarteten Triumphes hörte, war er tief gerührt, darin die Reue ausgedrückt zu lesen, die er erwartet hatte. Die schönen Seelen vermögen in sich keinen Widerstand gegen diese Gefühlswallungen, die sie bei anderen für ebenso mächtig halten wie bei sich selbst. Es ist schon so: wenn der Krug voll ist, läuft er über ..., und so konnte gegen zwölf Uhr nachts Basine mit allen flehentlichen Bitten David nicht abhalten, Lucien aufsuchen zu wollen.
»Niemand«, sagte er zu ihr, »ist zu dieser Stunde in den Straßen Angoulêmes zu finden, man wird mich nicht sehen, man kann mich in der Nacht nicht verhaften; und sollte ich gesehen werden, kann ich mich noch immer des Mittels bedienen, das Kolb erfunden hat, um in mein Versteck zurückzukehren. Überhaupt ist es viel zu lange her, daß ich Frau und Kind nicht umarmt habe.«
Basine gab all diesen Gründen, die recht vernünftig klangen, nach und ließ David hinaus. Und so rief er in dem Augenblick »Lucien!« wo Lucien und Petit-Claud einander guten Abend
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