Verlorene Liebe
Die wahren Großen waren noch nie von der Masse verstanden worden. Doch die Masse bewunderte sie, verehrte sie. Der Tag würde kommen, an dem er die Welt in seinen Händen hielt, so wie es bald schon sein Vater tun würde. Dann besäße Jerald die Macht, sie nach seinem Willen umzuformen. Oder wenn nötig, sie zu zermalmen.
Er kicherte und griff in seinen Beutel. Jerald rauchte nie zu Hause. Er wußte, daß der süßliche Pot-Geruch zu leicht bemerkt wurde, und dann würde man ihn bei seinen Eltern verpetzen. Wenn es ihn nach einem Joint verlangte, ging er lieber nach draußen. Zigaretten vermied er, denn seine Eltern waren beide in Anti-Raucher-Kampagnen aktiv. Nur ein Hauch von Zigarettenqualm würde die Reinheit des Hayden-Hauses beschmutzen. Jerald grinste, als er den Joint aus dem Beutel zog. Eine erlesene Qualität, mit Zusatz versehen: PCP oder Angel Dust. Lächelnd strich er mit zwei Fingern darüber. Nur ein paar Züge, und man fühlte sich wie ein Engel. Oder wie Satan höchstpersönlich.
Seine Eltern würden erst in einigen Stunden heimkehren, und die Bediensteten hatten sich allesamt in ihren Flügel zurückgezogen. Er brauchte jetzt dringend eine Dröhnung. Wenn er jetzt gleich wieder den Frauen lauschte, wollte er so high sein wie schon lange nicht mehr. Denn seine nächste Kandidatin sollte leiden. Jerald nahm den Revolver seines Vaters aus der Schublade. Die Waffe, mit der Captain Charlton P. Hayden einst so viele Schlitzaugen in Vietnam abgeknallt hatte. Der zukünftige Präsident hatte sogar Orden für seine Tötungsquote erhalten, und das erfüllte Jerald mit mehr als bloßem Stolz und Bewunderung.
Er selbst wollte jetzt keine Orden, sondern nur einen Kick. Einen möglichst großen Kick. Der Teenager in ihm öffnete das Fenster, bevor er den Joint anzündete. Der Wahnsinnige in ihm schaltete den Computer ein und begann mit der Suche.
Grace verbrachte den ersten Abend an der Fantasy-Leitung hin- und hergerissen zwischen Belustigung und Verblüffung. Eigentlich war sie gar nicht so unglücklich darüber, noch zu solcher Überraschung fähig zu sein. Als Künstlerin zu leben und in New York zu wohnen, bedeutete allem Anschein nach doch nicht, schon alles gesehen oder gehört zu haben. Sie erhielt die unterschiedlichsten Anrufe: von Männern, die sich ausweinen wollten, von Träumern, von solchen mit wirklich bizarren Vorstellungen und von alten Lüstlingen. Grace hatte sich immer als Frau gesehen, die so leicht nichts umwerfen konnte und der nichts Menschliches fremd war. Doch in diesen Stunden geriet sie mehr als einmal ins Stocken. Ein Mann, der aus einer ländlichen Gegend in West Virginia anrief, erkannte gleich, daß sie auf dem Gebiet des Telefonsex noch neu war.
»Mach dir nichts draus, Schätzchen«, beruhigte er sie. »Ich sage dir schon, was du tun mußt.«
Sie tat drei Stunden lang am Telefon Dienst und mußte sich immer wieder ein Kichern verbeißen, einen gelinden Schock wegstecken und mit dem Wissen fertig werden, daß Ed unten wartete.
Gegen dreiundzwanzig Uhr rief sie den letzten Kunden an. Danach schloß sie ihre Notizen weg – man konnte ja nie wissen, wozu sich solche Erfahrungen noch einmal verwerten ließen – und lief die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Ed saß dort, und neben ihm sein Partner.
»Hi, Ben, ich wußte gar nicht, daß du auch gekommen bist.«
»Das ganze Team macht mit.« Ein Blick auf die Armbanduhr belehrte ihn, daß sie längst über die Zeit hinaus waren, in der der Täter zuzuschlagen pflegte. Sicherheitshalber wollte er aber noch eine halbe Stunde zugeben. »Und, wie ist es gelaufen?«
Grace hockte sich auf eine Sessellehne, warf einen vorsichtigen Blick auf Ed und zuckte dann die Achseln. »Irgendwie hatte ich es mir anders vorgestellt. Hat es einen von euch schon einmal erregt, eine Frau niesen zu hören? Na, macht ja nichts.«
Während sie sprach, beobachtete Ed sie genau. Er hätte schwören können, daß einige Anrufer sie doch etwas verlegen gemacht hatten. »Hat irgendeiner dich beunruhigt oder deinen Verdacht erweckt?«
»Hm, nein. Die meisten Kunden wollten eigentlich nur etwas Mitgefühl, jemand, der ihnen zuhört. Andere glaubten wohl, mit Telefonsex würden sie ihre Frau nicht unbedingt hintergehen. Am Telefon seine Wünsche erfüllt zu bekommen, ist doch viel sicherer und weniger drastisch, als zu einer Prostituierten zu gehen.« Aber für sie selbst war es nicht unbedingt einfacher gewesen, erinnerte sie sich. »Ihr habt alles
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