Verlorene Liebe
bißchen.«
Er studierte kurz die Zahlenkolonnen und die Quittungen. »Ich könnte dir doch etwas zur Hand gehen.«
»Danke, aber als du mir das letzte Mal dabei geholfen hast, habe ich sechs Monate gebraucht, um alles wieder in Ordnung zu bringen.«
»Gemeine Unterstellungen«, lachte er und strich ihr übers Haar. »Wenn ich dich nicht besser kennen würde, käme mir der leise Verdacht, du hättest das wirklich so gemeint. Jonas, du befindest dich hart an der Grenze zu einem Donnerwetter.«
»Er nimmt diese Spiele viel zu ernst«, sagte Mary Beth leise. »Genau wie sein Vater.«
»Spiele wollen auch ernst genommen werden.« Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Mir fällt da gerade ein besonders tolles Spiel ein. Wie steht’s?«
Sie lachte. Diesen Mann kannte sie jetzt schon seit über zwanzig Jahren, und es gelang ihm immer noch, ihren Puls zu beschleunigen. »Dann bin ich ja um Mitternacht noch nicht fertig mit der Buchführung.«
»Wäre es dir lieb, wenn ich die Kinder für eine Weile beschäftige?«
Mary Beth strahlte ihn an. »Manchmal kannst du wirklich meine Gedanken lesen. Wenn ich eine Stunde in Ruhe arbeiten kann, finde ich vielleicht einen Weg, Geld für die neuen Reifen lockerzumachen.«
»Bin schon unterwegs.« Seine Lippen fanden die ihren. Jonas, der auf dem Boden kniete, verdrehte die Augen. Ständig mußten seine Eltern sich küssen. »Tu dir einen Gefallen und nimm die Kontaktlinsen heraus. Du hast sie schon wieder viel zu lange dringelassen.«
»Ja, vermutlich hast du recht. Danke, Harry, wenn ich dich nicht hätte, würde ich bald den Verstand verlieren.«
»Ich mag es aber, wenn du verrückte Sachen machst.« Er küßte sie noch einmal und hob dann die Hände: »Alle, die Lust auf eine kleine Spritztour und ein Eis mit heißem Sirup haben, versammeln sich in zwei Minuten in der Garage.«
Augenblicklich brach die Hölle los. Spielsteine flogen in die Luft, Schuhe knallten über den Boden, und Binky fing an zu bellen, bis das Kätzchen ihn mit seinem Gefauche aus dem Zimmer verscheuchte. Mary Beth zog Pats pinkfarbenen Pullover, den mit den Straßsteinen, aus irgendeiner Ecke und ermahnte Jonas, sich zu kämmen. Das tat er natürlich nicht, aber zumindest hatte sie ihn darauf hingewiesen.
Binnen weniger Minuten war das Haus leer. Mary Beth saß wieder an ihrem Schreibtisch und genoß für einen Moment die Stille. Morgen mußte bestimmt groß aufgeräumt werden. Für den Augenblick aber wollte sie nicht einmal einen Blick auf die Verheerung werfen, die die Kinder hinterlassen hatten.
Mary Beth schätzte sich glücklich, besaß sie doch alles, was sie sich immer gewünscht hatte: einen liebenden Ehemann, Kinder die ihr eine Herzensfreude waren, ein Haus mit Charakter und einen Chevrolet, der, so Gott wollte, keine Macken mehr aufwies. Sie beugte sich über das Buch und fing wieder an zu rechnen.
Eine halbe Stunde später erinnerte sie sich an Harrys guten Rat, die Kontaktlinsen herauszunehmen. Brillen waren ihr schon immer verhaßt gewesen, schon seit damals, als ihr im zarten Alter von acht Jahren die erste verpaßt worden war. Auf der High School mußte sie Gläser so dick wie Colaflaschenböden tragen, und immer wieder war sie lieber halbblind durch die Flure und Gänge geirrt, als sich die Schmach einer solchen Verunstaltung anzutun. Da Mary Beth immer schon gewußt hatte, was sie wollte und wie sie das auch erreichte, hatte sie in den Sommerferien gearbeitet, bis es für Kontaktlinsen reichte. Seit jener Zeit hatte Mary Beth es sich zur Angewohnheit gemacht, sie schon morgens beim Aufstehen einzusetzen und erst abends beim Zubettgehen wieder herauszunehmen.
Beim Lesen oder der Buchführung fingen ihre Augen nach einer Weile an zu schmerzen. Dann mußte sie die Linsen aus ihren Augen nehmen und war gezwungen, das Buch direkt vors Gesicht zu halten, um die Seite zu Ende lesen zu können. Jetzt war es wieder soweit. Sie begab sich nach oben und nahm im Badezimmer die Linsen heraus.
Wie in allen Dingen ging sie auch hier äußerst gewissenhaft vor. Mary Beth reinigte die Kontaktlinsen und legte sie in neue Lösung. Weil Pat gern in den Schubladen ihrer Mutter nach Lippenstift suchte, stellte Mary Beth die Dose mit den Gläsern ins oberste Fach des Medizinschranks. Danach lehnte sie an der Tür, betrachtete sich im Spiegel und überlegte, ob sie ihr Make-up auffrischen sollte. Harry und sie hatten schon seit Tagen keine Gelegenheit mehr gefunden, miteinander zu
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